Fall Stephanie:Nervenkrieg in Dresden beendet

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In den frühen Morgenstunden gab der Sexualstraftäter Mario M. seinen Platz auf einem Gefängnisdach in Dresden auf - Kälte und Verhandlungen hatten ihn zermürbt. Dennoch: Sein Opfer hat er erneut getroffen.

Die Nacht mit Kälte und Regen brachte schließlich eine erlösende Nachricht. Der geständige Sexualstraftäter Mario M. verließ am frühen Donnerstagmorgen seinen Platz auf einem Dach der Dresdner Justizvollzugsanstalt, auf das er sich gut 20 Stunden zuvor mit einer spektakulären Kletteraktion geflüchtet hatte.

Die Zermürbungstaktik der Polizei bei Psychologengesprächen sowie Kälte und Regen ließen ihn letztlich aufgeben. Die Beamten trugen in dem Nervenkrieg einen Sieg davon. Ein Ziel erreichte der 36-Jährige dennoch: Er traf sein Opfer Stephanie und dessen Familie, die sichtlich von Angst gezeichnet und wieder einmal fassungslos ob einer Behördenpanne waren.

Verspäteter Verhandlungsbeginn

Nach Polizeiangaben befindet sich der Mann seit dem Morgen im Gefängnistrakt. Der zweite Verhandlungstag im Stephanie-Prozess am Landgericht Dresden beginnt nun mit etwa 30 Minuten Verspätung, teilte der Vorsitzende Richter Tom Maciejewski mit.

Vorerst blieb unklar, ob der Angeklagte Mario M. nach seiner etwa 20-stündigen Flucht auf das Gefängnisdach zur Fortsetzung des Prozesses im Saal sein wird. "Das Gericht muss heute entscheiden, ob der Angeklagte ausgeschlossen wird, weil er eine Gefahr für das Verfahren darstellt", sagte der Anwalt der Nebenkläger, Ulrich von Jeinsen.

Ob Mario M. hofft, dass er nach den mehr als 20 Stunden auf dem Dach eine Schonfrist bekommt, darüber kann genauso wie über die Motive seiner Kletteraktion nur spekuliert werden. Die Polizei hielt sich bedeckt.

Der Verteidiger des Angeklagten, Andreas Boine, erklärte, seine Aufgabe sei nicht leichter geworden. Er müsse darauf achten, dass sein Mandant am Leben bleibe, und sei froh, dass sich die Situation so gelöst habe.

Mario M. hatte sich den ganzen Mittwoch über bis zum Einbruch der Dunkelheit aufrecht auf dem Dach der JVA gezeigt - nahezu provokant demonstrierte er seine Körperkraft.

Vermutlich wohl wissend, dass dutzende Fernsehkameras und Teleobjektive auf ihn gerichtet waren. Von der Stimmung der Schaulustigen und Journalisten vor dem abgeriegelten Gefängnis dürfte er nichts mitbekommen haben. Immer wieder fragten sich Beobachter der Szenerie, weshalb die Polizei dem Spektakel kein gewaltsames Ende setzte. Doch die Polizei setzte auf Verhandlungen.

Denn der Mann hielt sich offenbar bewusst stets am Rand des Daches auf. Und die Beamten befürchteten, dass er bei einer Polizeiaktion in die Tiefe stürzen könne. Polizeisprecher Thomas Herbst betonte immer wieder, der Mann solle unversehrt vom Dach geholt werden, weil er sich in einem rechtsstaatlichen Prozess seiner Taten verantworten müsse. Und auch ein Straftäter habe das Recht auf körperliche Unversehrtheit - so schlimm die Taten auch seien, die Mario M. begangen habe.

Mackenroth räumt Justizpanne ein

Mario M. hatte am vergangenen Montag gestanden, am 11. Januar dieses Jahres die damals 13-Jährige Gymnasiastin Stefanie auf dem morgendlichen Schulweg ins Auto gezerrt und in seine Wohnung verschleppt zu haben. Fünf Wochen lang blieb sie in den Händen eines Täters, der das Kind Dutzende Male vergewaltigte und anders misshandelte.

Etliche Taten hielt er auf Video fest. Dass er unberechenbar ist, wurde bereits zum Prozessauftakt offenkundig. Beim Verlesen der Anklageschrift sprang der Beschuldigte plötzlich auf und musste gefesselt aus dem Saal geführt werden. Am Donnerstag dürfte auch die politische Aufarbeitung des Falles beginnen.

Justizminister Geert Mackenroth (CDU) hatte am Vortag eine Justizpanne eingeräumt, aber vorschnelle personelle Konsequenzen abgelehnt. "Derzeit steht ein Rücktritt nicht im Raum", bekräftigte er am Morgen im ZDF. Er schließe aber überhaupt nichts aus. "Ich klebe nicht an meinem Amt. Ich werde mich dann entscheiden, wenn wir den Sachverhalt mit Hilfe des Ausschusses im Landtag und mit anderen aufgeklärt haben."

Von Seiten der Politik wie der Nebenklage wurde die Forderung nach Konsequenzen erhoben. FDP-Chef Guido Westerwelle sprach laut Bild-Zeitung von einem "Justizskandal, der zum Himmel schreit - und nach persönlichen Konsequenzen der Verantwortlichen". Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler nannte die spektakuläre Kletteraktion des Gefangenen auf das Dresdner Gefängnisdach einen "ungeheuerlichen und beispiellosen Vorgang". Niemand dürfe sich wundern, "wenn im Volk Gedanken an Selbsthilfe aufkommen", wurde Gauweiler zitiert. Der frühere Berliner CDU-Justizsenator Rupert Scholz sagte Bild, der Vorfall sei eine Katastrophe für das Opfer. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

So verlangte die Nebenklage unter anderem den Rücktritt des Dresdner JVA-Chefs. Auch die Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des sächsischen Landtags wurde erhoben, da die Justizpanne nicht der einzige Fehler im Fall Stephanie ist. Schon unmittelbar nach Ergreifung des Täters am 15.

Februar hatten die Ermittler Fehler einräumen müssen. Lange war Mario M. nicht ins Visier der Polizei geraten, weil er noch mit seiner alten Anschrift registriert war und unter einem falschen Suchbegriff gejagt wurde. Auch das Vorgehen beim Befreien des Kindes wirkte stümperhaft. Als Beamte an der Tür des Geiselnehmers läuteten und keiner öffnete, forderten sie statt eines Spezialkommandos den Schlüsseldienst an.

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