Fall Madeleine McCann:Wenn selbst die letzte Spur verweht

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Der Fall gibt weiter Rätsel auf, aber in Rothley erinnert ein Jahr nach dem Verschwinden von Maddie McCann nichts mehr an sie. Die Bewohner reagieren vielmehr gereizt auf die Eltern.

Wolfgang Koydl, Rothley

Die gelben Bänder sind verschwunden, wie weggeblasen von einem Frühlingssturm. Vor sechs Monaten noch hatten sie sich um jede senkrechte Strebe rings ums Kriegerdenkmal gewunden: um den Eisenzaun, die Laternenpfähle, ja sogar um die Mülltonnen. Weggeräumt sind auch die Blumensträuße, die Kartengrüße, die Kinderzeichnungen.

2. Mai, Praia da Luz: In Portugal hängt ein Foto des verschwundenen Mädchens - der Heimatort von Maddie McCann will den Fall am liebsten vergessen. (Foto: Foto: AP)

Nichts mehr erinnert in Rothley an Madeleine McCann, die hier mit ihren Eltern lebte. Ein Jahr, nachdem die damals Dreijährige aus einem Hotelzimmer im portugiesischen Praia da Luz verschwand, scheinen die 3500 Einwohner des unscheinbaren Dörfchens nördlich der mittelenglischen Kleinstadt Leicester zum Alltag zurückgekehrt zu sein. Sogar am Schwarzen Brett des Gemeindesaales wirbt kein Plakat mehr um Spenden für den Madeleine-Fonds, sondern für ein Bierfestival und ein Akkordeon-Duo.

"Wir leben in Hoffnung, und wir beten für die Eltern" sagt Liz, die im anglikanischen Pfarrhaus von St. Mary and St.John arbeitet. "Aber man kann nicht immer nur zurückblicken, das Leben geht schließlich weiter." Ein wenig zuckt sie mit den Lidern, als sie das sagt, als ob sie ein bisschen das schlechte Gewissen beißen würde bei diesen Worten. Sie will ja Gerry und Kate McCann nicht verletzen, und deshalb möchte sie zur Sicherheit den Namen auch nicht nennen.

Misstrauen, Skepsis und Wachsamkeit trifft man überall an, wenn man in Rothley über die McCanns reden will. Sicher, man hat sich um die Familie geschart in den ersten Monaten, als der Schock und der Schmerz noch frisch waren. Man hat Geld gesammelt, und man hat bereitwillig Rede und Auskunft gestanden, als die Massenmedien aus aller Welt in das verschlafene Nest einfielen und ihre neugierigen Mikrofone und Kameraobjektive den Leuten in die Gesichter streckten.

Aber das Leben muss doch weitergehen, nicht wahr? Sind denn die McCanns nicht auch selbst heimgekehrt nach Rothley, obwohl sie gelobt hatten, Portugal erst wieder zu verlassen, wenn sie mit ihrer Tochter vereint sein würden? Gerry arbeitet wieder als Kardiologe am Regionalkrankenhaus, Kate bleibt daheim bei den Zwillingen Sean und Amelie. Drei Jahre sind sie inzwischen, so alt wie Maddie war, als sie verschwand.

"Viel sieht man nicht von ihnen im Dorf, sie bleiben sehr für sich", bemerkt Philip Dayman, der den Zeitungsladen betreibt, und es klingt nicht, als ob er dies bedauern würde. Denn jetzt, so gestehen er und Liz im Pfarrhaus ein, erwarte man mit Bauchgrimmen den ersten Jahrestag des Verschwindens von Madeleine am 3.Mai. An diesem Tag wollen die vier christlichen Kirchen von Rothley erneut einen gemeinsamen Gedenkgottesdienst abhalten, wie schon vor sechs Monaten. Damals hatte die Polizei alle Mühe, die angereisten Medienvertreter in Zaum zu halten, die mit einem Blitzlichtfeuerwerk über die McCanns hergefallen waren. Es war zu unschönen Szenen gekommen, die man im Dorf nicht vergessen hat.

Sie wussten, was sie taten

"Wenn wir mit Celebrities leben wollten, dann würden wir in Kensington oder Chelsea wohnen, oder nicht", schnappt denn auch die Alte vom Farm-Shop oben an der Zufahrtsstraße zum Dorf. Nein, nicht mal einen Vornamen will sie preisgeben, aber sie steht zu dem, was sie gerade gesagt hat. Berühmtheiten gehören nicht in einen Ort wie Rothley. Aber ist dieser Vorwurf nicht schreiend ungerecht? Gerry und Kate haben sich ihren Status als Medienobjekte nicht selber ausgesucht. Außerdem bezahlen sie für diesen Status mit dem schmerzvollsten Verlust, den Eltern erleiden können: dem des eigenen Kindes und der Ungewissheit, was mit ihm geschehen ist.

Doch so leicht kann man es sich nicht machen. Die McCanns wussten genau, was sie taten, als sie sich vor der Öffentlichkeit nicht verkrochen, sondern sie für ihre Zwecke einspannten. Mit einer Mischung aus unerschütterlicher Willenskraft, festem Glauben und unerwartetem Talent für das, was Fachleute news management nennen, gelang es ihnen, die Aufmerksamkeit der Medien wachzuhalten - über Wochen, Monate, ja ein ganzes Jahr lang. Madeleine sollte nicht dasselbe Schicksal erleiden wie unzählige andere Menschen, die verschwinden und nie gefunden werden.

Sicher, die Polizei ermittelt, die Akten werden nicht geschlossen. Aber sie rutschen immer weiter nach hinten, bis sie irgendwann nicht mehr geöffnet werden. Kate und Gerry wollten es nicht akzeptieren, dass ihr Fall zuerst auf die hinteren Zeitungsseiten verbannt und irgendwann ganz vergessen würde.

Deshalb entschieden sie sich, selbst die Reflexe dieser Mediengesellschaft zu stimulieren und zu befriedigen. Prinz Charles und der Papst, Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling und der Unternehmer Sir Richard Branson - sie alle ließen sich einspannen in die Kampagne für Maddie. Premierminister Gordon Brown sprach dem Mediziner-Ehepaar nicht nur Trost zu, sondern stellte mit Clarence Mitchell einen Spitzenbeamten ab, der den McCanns seitdem als Sprecher dient. Millionen Menschen klickten die Website an und lasen Gerrys Blog. Tausende zahlten in den "Kampffonds" ein: Madeleine wurde zur internationalen Marke.

"Wir zahlen für den Fehler"

Aber die Mediengesellschaft ist grausam, unbarmherzig und unersättlich, sie verlangt ständig neue Nahrung: Maddie lebend gefunden, oder Maddie tot geborgen - das wäre eine Fortschreibung der Geschichte gewesen, aber nicht das ewig gleiche Spektakel eines verhärmten Paares, das durch die Welt tingelt.

"Bin es nur ich, oder gehen die McCanns auch Ihnen auf die Nerven", fragte das Massenblatt Sun - und viele Leser gaben ihm recht. In Online-Zuschriften der britischen Presse ist von Sympathie kaum mehr etwas zu spüren: "Sorry, Kate, aber du kannst niemand anderem die Schuld geben als dir selbst", hieß es. Eine andere Leserin warf der 40-Jährigen gar ihr Lächeln vor: "Hätte ich mein Kind verloren, ich würde nie wieder lächeln", stellte sie pointiert fest.

Die McCanns haben ihren Fehler eingestanden, die Kinder allein im Hotelzimmer gelassen zu haben. "Aber wir zahlen mehr für diesen Fehler als irgendwie vorstellbar", sagte Gerry. Er und seine Frau haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihre Tochter gefunden wird. "Eines ist sicher", bekräftigte er, "ich habe nichts gesehen, das darauf hindeutet, dass sie tot ist. Und ich meine: nichts. Absolut null."

Kate gestand zwar ein, dass es Tage gebe, "an denen du so niedergeschlagen, verzweifelt und erschöpft bist", dass man die Suche aufgeben wolle. "Aber dieser Moment wird für uns nie kommen. Egal wie gering die Möglichkeit ist (sie lebend zu finden), diese Möglichkeit ist immer präsent."

© SZ vom 1. Mai/grc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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