Expedition im Wohnzimmer:Vor Sonnenaufgang

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Erotik war noch nie so sehr eine Frage des Stils wie heute. Im Zeitalter des bildgewaltigen Mülls sollten auch wir Deutsche uns an einen Eros erinnern, den wir mal hatten.

Von Oliver Fuchs

Es ist Nacht. Eine finsterschöne und samtschwarze Nacht, ein Original, wie geschaffen, um ein wenig durch die Wohnung zu tigern.

Man findet alte Zettel mit rätselhaftem Inhalt, ein Spielzeug-Orakel mit Blinklichtern, das man sich aus schwer rekonstruierbaren Gründen irgendwo mal gekauft hat, eine Flasche Eckes-Edelkirsch, ein Quartett-Kartenspiel mit den Darstellern aus "Bonanza", nie abgeschickte Liebesbriefe sowie auch Hassbriefe. Das eigene Leben erscheint fremd in solchen Momenten. Sie merken schon, liebe Leser, hier wird gleich am Anfang abgeschweift, um den heißen Brei herumgeredet, vom Hundertsten ins Tausendste ausgewichen. Wir hatten eine Verabredung. Wir wollten uns gemeinsam auf die Suche nach etwas Bestimmtem machen. Wir wollten die Erotik suchen, in Deutschland, natürlich nachts.

Erotik. Gleich denkt man an einen augenzwinkernden, rotweintrinkenden Bonvivant mit Wildleder-Mokassins und geräumiger Jazz-DVD-Sammlung. Oder an Frauenzeitschriften-Titel wie "Die erotischsten Hollywood-Männer 2004". Wundersame Geschichten sind das oft, man fragt sich, wie ein einzelner Mann das hinkriegt, "erotisch" zu sein. Wir dachten immer, dass da zwei Menschen dazugehören. Ist Erotik nicht das, was entsteht, wenn zwei Menschen sich anschauen und es zu brennen beginnt?

Erotik 2004. Die kleine Expedition findet im Wohnzimmer statt. Man könnte auch hinaus in die Wirklichkeit gehen, in ein Lokal, Freunde treffen. Vielleicht sitzt jemand erotisches mit am Tisch, das wäre spannend. Aber die Erfahrung zeigt: Sobald eine attraktive Frau dabei ist, die in einem Gespräch über die Pendlerpauschale in einem Nebensatz nicht sofort erwähnt, dass "mein Freund übrigens auch Pendler" ist, werden die Freunde pfauenhaft, großsprecherisch, peinlich.

Expedition im Wohnzimmer

Es gibt kluge Menschen, die haben ihren Fernseher zum 1.Januar abgemeldet und in den Keller getragen, nachdem sie ausgerechnet haben, dass ihre Neugier ihnen pro Nacht mindestens eine Stunde Zapperei zwischen Katastrophennachrichten, Parteibonzenstatements und Telefonsexwerbung beschert. Wir aber schalten den Fernseher nochmal an, vielleicht ein letztes Mal, noch hat ihn keine Regierung mit Warnhinweisen überklebt. "Chat-Station", das interaktive Erotik-Format, täglich von Mitternacht bis zwei Uhr auf TV München, TV Berlin und Hamburg 1.

Gastgeberin ist Jessy, rothaarig, aufgedreht. Zopf und Busen wippen. Am unteren Bildschirmrand SMS-Botschaften. Jemand schreibt: "Zeigt Eure Titten!" Das ist etwas schroff formuliert. Neben Jessy lümmeln zwei Kolleginnen auf der Bettcouch, die eine nimmt bevorzugt fußfetischistisch motivierte Anfragen entgegen, die andere ist eine "Hausfrauen 50+"-Hostess. Beide blicken unendlich müde in die Kamera. Müde blicken wir zurück. Furchtbar.

"Hallihallo, wo ist die süße Sabse heute?", fragt ein Zuschauer. Er wird von Jessy zurechtgewiesen. Er solle sich bitte "erstmal registrieren" lassen, ehe er derart direkte Fragen stellt. "Die Sabse", hebt Jessy nun gravitätisch an zu sprechen, "hat jetzt eine Lehrstelle". Weiter erfährt man, dass "wir anderen Mädels" der Sabse geraten haben, das mit der Lehrstelle auf jeden Fall zu machen, auch in punkto Zukunft und pipapo, nun könne die Sabse wg. Doppelbelastung natürlich nicht mehr nachts arbeiten.

Kommt die Werbeunterbrechung, gefriert das Bild mit den Mädchen. Nachtgestalten. Eiskalte Gespenster.Wir dämmern weg, hören gerade noch, wie Jessy Lichtstraßen entfernt, durch Spiralnebel hindurch, etwas sagt wie Schickt-uns-doch-'ne-Sms und Bitte-gleich-registrieren und Morgen-wieder-einschalten.

Zwei Uhr nachts in Deutschland

Es ist zwei Uhr nachts in Deutschland. "Chat Station" ist ausgestanden. Wir haben gelernt, dass Erotik eine in Zielgruppen und Partialinteressen ausdifferenzierte Angelegenheit ist, dass Erotik und eine Lehrstelle sich gegenseitig ausschließen und dass man sich für Erotik registrieren lassen muss.

Jetzt ist es Zeit für eine kleine Stärkung, bevor die Expedition weitergeht. Heiße Schokolade? Oder lieber eine Cola? Die Stimmen aus dem Werbefernsehen summen herum: Einmal gepoppt, nie mehr gestoppt! Axe kann länger! Ich und mein Magnum! Schluss jetzt, Fernseher erstmal aus.

Seit die baden-württembergische "Grüne Jugend" im Wahlkampf mit dem Slogan "Grün fickt besser" hausieren ging, der erwartungsgemäß kontrovers diskutiert und als provokativ, frisch und originell empfunden wurde, ist sexy Werbung verbrannte Erde. Provokation ist ein Konzept für Idioten. Sex eventuell auch? Wie das klingt: "Sex haben". Habenhaben. Hals nicht vollkriegen. Man möchte nicht dabei sein, wenn das bewerkstelligt wird. Altes tschechisches Sprichwort: Wenn du glaubst, du hast das Glück, dann zieht das Glück den Arsch zurück.

Das erotischste Medium, sagen manche, sei das Internet. Jemand hat die Website "kwick.de" empfohlen, das soll eine rührige "Internet-Community" sein. Wir loggen uns ein, lesen Steckbriefe und Kontaktanzeigen von potentiellen Chat-Partnern. Sie heißen "Chrischdl" und "Mausi1893" und "Superbabe2", eine "Sabse" ist auch hier dabei - schon die zweite heute Abend.

Pling! "Chrischdl" hat eine message geschrieben. Sie fragt, ob wir im Forum "Oberlippenbärte - sind die noch in?" mitdiskutieren wollen."Chrischdl" kommt aus Neckartailfingen, schreibt "weisch" statt "weißt du" und "hasch" statt "hast du" und beendet jede Botschaft mit "grüssle". Sie ist nicht die einzige aus Neckartailfingen, und auch sind dort noch Neckartenzlinger, Reutlinger und Burladinger eingeloggt. Die "kwick"-Community ist zweifelsfrei in Schwabenhand. Baden-Württemberg ist ein schönes Land, aber baden-württembergische Erotik ist zu speziell, zu hart, zu extrem. Da machen unsere Nerven nicht mit.

Grau-gelbe Skiunterhosen

Ein falscher Klick nach dem Verlassen der "kwick"-Seite, schon poppen Fenster auf den Bildschirm, Fotos von (baden-württembergischen?) Frauen, Männern und sogar Ziegen, die Dinge im Mund haben, die da nicht zwingend hingehören. "Horny young sluts", "Amateur housewives" . . . Überhaupt keine Ahnung, warum man plötzlich an grau-gelb geringelte Skiunterhosen denken muss.

Vielleicht sollten wir uns im Jahr 2004 - dem Jahr der inneren Reinigung und Kontemplation - mal kurz besinnen. Halblang machen. Einen Gang zurückschalten. Mindestens einen.

So wie Kylie Minogue, die kürzlich bei der schlimmen Verleihung der MTV Music Awards, inmitten eines von Christina Aguilera geleiteten Tollhauses aus Nacktheit, Wichtigtänzerei und Quatschköpfigkeit ihren lässigen Song "Slow" hochgeschlossen und souverän am Boden liegend darbot. So wie die Frauen aus "Sex and the City", die eine Erotik des gesprochenen Worts, eine Erotik der Pointe pflegen, bei der es mehr knistert als beim üblichen TV-Hechelhechel.So wie Bill Murray und Walther von der Vogelweide und Thomas Mann und die anderen Sehnsuchts-Männer, die mit Andeutungen und Aussparungen, mit delikaten Worten, Gesten und Blicken ein Feuer entfachen, von dem Einmal-gepoppt-nie-mehr-gestoppt nur träumen kann. Warum werden auf Zigarettenschachteln Warnhinweise mit Trauerrand gedruckt, wenn das Fernsehen gleichzeitig Sex-Clips zeigen darf, die krank machen, weil sie Bilder von der Welt machen, die schlechter riechen als ein alter Aschenbecher?

Verliebt in einen Penis

Hallo, Leser, sind Sie noch da? Sind Sie stark genug für das, was folgt? Kurz machen wir den Fernseher noch einmal an. "Schulmädchen", neue RTL-Serie. Genre "Teen-Comedy". Start 16. Januar. So beginnt die erste Folge: Eine Umkleidekabine, der Sportunterricht ist aus, die Schulmädchen duschen, lugen durch ein Loch in die Jungsdusche. Was immer man dadurch sieht, Gesichter sind es jedenfalls nicht. Eins der Mädchen sieht offenbar etwas Außergewöhnliches. "Mensch, Wahnsinn! Ich glaub, ich hab mich gerade verliebt." "In einen Penis?" "Hmm."

So fängt sie an, so geht sie weiter, so endet die "Schulmädchen"-Staffel. Nach jeder Szene denkt man: Moment, das kann nicht sein, das geht nicht, das ist zwar sowieso RTL, natürlich, aber muss denn immer, immer, immer alles so sein, wie man vorher denkt, dass es sein wird?Im Titel wird die deutsche "Schulmädchen"-Filmtradition der 70er Jahre zitiert, mit der diese moderne Serie natürlich nichts gemein haben will. Sie will so sein wie die zeitgenössische amerikanische Sex-Comedy "American Pie". Die Figuren bei "American Pie" haben eine Geschichte, Brüche, Widersprüche.

Die deutschen "Schulmädchen" haben eine Oberweite. Und so ist die RTL-Komödie eine erwartungsgemäß traurige Angelegenheit. "Frau Wirtin bläst auch gern Trompete" für die Nullerjahre. SMS, Internet und Fernseher - hier bleibt nur Gewäsch und Fleisch mit Gemüse. Adieu, ihr drei! Bleiben für 2004 - und von 2004 an - jene Medien, die uns im faststillen Fastdunkel verzaubern: Das Kino und die Literatur. Gießen wir einen Gin Tonic ein in der schwarzen Wohnung, schließen wir die Augen und denken, zum Beispiel, an Uschi Obermaier.

Da war doch, die war doch ... Drei Uhr vierzig. Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten. Unter der Leselampe: "Und wieder mich Eros, der gliederlösende, beugt und biegt / das süßbittere, rettungslose Untier". Sappho. Der Gin Tonic schmeckt auch süßbitter. Nochmal Sappho: "(wieder) erschütterte mir das Herz / Eros, so wie der Wind in die Eichen des Berges fällt."

Herzerschütterung, so kommen wir der Sache schon näher! Der Ton bei Sappho ist ernst und lakonisch. Sind Komik und Erotik Feinde? Ist Reden der Tod der Erotik? Ist Deutschland der Tod der Erotik?

Marmelade auf Schinken

Sehen Sie Uschi Obermaier? Ich seh' sie. Am Starnberger See, in der roten Sonne. Am Anfang des hocherotischen deutschen Films "Rote Sonne" kommt Marquard Bohm in eine Bar. Er setzt sich an die Theke, hinter der Theke: die Uschi. Sie fragt ihn, was er trinken will. Die beiden reden eine Weile, ganz knappes Zeug, dann legt er einen Finger auf ihre Hand, in die kleine Mulde zwischen Zeige- und Mittelfinger. Das ist der Moment, in dem es zu brennen beginnt.

Später, im Bett: Uschi Obermaier bestreicht eine Semmel für Marquard Bohm. Er sagt: "Mit Marmelade". Sie: "Marmelade auf dem Schinken?" Er: "Ja, wir müssen mit den Konventionen brechen". Er beißt ab, sagt "Scheußlich!" Und legt die Semmel weg.

"Rote Sonne" ist ein Film von 1969, aber dass er von 1969 ist, ist egal. Wer ihn heute anschaut und sieht, wie Uschi Obermaier beim Bestreichen einer Semmel mehr Sex und Haltung und Würde nur im Handgelenk hat als Jessy, Chrischdl und andere "Schulmädchen" sonstwo, der bekommt ein Gefühl dafür, was Erotik war und eben wegen der Bruttoregistertonnen von Müll, denen wir heute ausgeliefert sind, ist: Nicht die technische Vorstufe von Sex, nicht die Schwundstufe, nicht die Kopie einer Kopie, sondern ein Wert an sich. Nochmal Sappho unter der Leselampe: Sie ist etwas, das windgleich in die Eichen des Berges fällt. So schön!

In 2004, dem Jahr der inneren Reinigung und Kontemplation, sollten wir also den Andeutungsweg der geläuterten Kylie Minogue gehen oder den Andeutungsweg von Scarlett Johansson und Bill Murray in "Lost in Translation" - und keinesfalls den der Christina Aguilera sowie ihrer Klonschlampen. Eltern, rettet auch eure Kinder!

Und wir sollten uns daran erinnern, dass sogar Deutsche damit an eine große Tradition anschließen. Nicht nur an eine hoch Literarische, auch an eine, die großer erotischer Pop war, wie unser 34 Jahre altes Bild von Frau Obermaier beweist. Ihr ungebräunter Bikinibusen ist die ewig gültige Antithese zu dem, was Art-Direktoren uns einfärben und Fernsehmacher uns einblenden wollen. Wir wollen also festhalten, dass Erotik - die große bedrohte Art - noch nie so sehr eine Frage des Stils war wie heute. Sonst könnte es uns eines Tages ergehen wie dem Paar in der "Brandung" Martin Walsers: "Die halb entblößten Unterkörper in der grellen Sonne. Zu wenig Platz. Zu wenig Stimmung. Gar keine Stimmung. Sabine ertrug die unschöne Verrichtung mit einem vernichtenden Gleichmut." Fünf Uhr zehn. Es wird heller. Gleich geht die rote Sonne auf.

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