Erdbeben in Asien:Das Leid der anderen

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Unser Schweigen ist die Katastrophe nach den Katastrophen.

Alexander Kissler

Es ist die Stunde der Verzweiflung und der Ratlosigkeit, der Solidarität und der Anmaßung. Nackte Menschen laufen schreiend auf die Straßen. Die Erde bebt. Häuser werden zu Massengräbern. Andernorts versinkt ein Dorf im Schlamm. Tausend Menschen ersticken an der feuchten Erde.

Zuvor, weiter nördlich, zerknickte ein Sturm alles, was der Mensch erschaffen hatte, Häuser, Hütten, Paläste. Ob Pakistan, Guatemala, USA, ob Erdbeben oder Hurrikan: Nie, so scheint es, war das Leben gefährdeter, nie wurden mehr Menschen Zeuge derart großer Verheerungen.

Doch die medial vermittelte, chronologisch verdichtete Zeitzeugenschaft rückt die Ereignisse zugleich in die entferntesten Regionen unseres Bewusstseins. Die Katastrophe ist da, sagten einst die Apokalyptiker und glaubten sich selbst betroffen. Heute ist die Katastrophe nicht da, sondern immer nur dort - dort, wo wir nicht sind. Sie ist ein vages Gefühl, das schnell kommt, schneller vergeht, ist nie ein Gedanke. Die Folgen dieser Entkopplung von Leid und Reflexion könnten dramatisch sein.

Die Frage nach dem Sinn

Im zurückliegenden Jahr starben bei 719 Naturkatastrophen eine Viertelmillion Menschen; der Tsunami forderte 224.495 Menschenleben. Nach dem pakistanischen Erdbeben vom vergangenen Samstag könnte die Zahl der Opfer auf 50.000 steigen.

Verblasst ist die Erinnerung an das Beben im iranischen Bam Ende 2003, die Erdstöße in Taiwan, Japan, der Türkei; zu schweigen vom Beben in China mit 250.000 Opfern vor 29 Jahren. An fremdem Leid herrscht kein Mangel. Wie ist es um die Reflexion bestellt?

Nach den Katastrophen machten einige Vulgärapokalyptiker den Versuch der Sinndeutung. Chiles Präsident Chávez erklärte, Erdbeben und Hurrikan seien die Antwort der Natur auf das "Modell des Weltkapitalismus".

Im Umkehrschluss heißt das: Unternehmer, schenkt euer Geld dem Staat, und die Erde gibt Ruhe. Ebenfalls einen Sinnpassepartout gefunden zu haben meint der freikirchliche Prediger Kim Clement aus Houston. Er behauptet, schon am 22. Juli den September-Sturm über New Orleans vorausgesehen und gedeutet zu haben: "Genug mit New Orleans und mit seinem Verrat!"

Naturkatastrophen wurden lange als Strafgericht interpretiert. Im Untergang Pompejis sahen fromme Juden eine Strafe für die Zerstörung des Tempels in Jerusalem neun Jahre zuvor; für viele Römer war der Ausbruch des Vesuvs eine Reaktion der Götter auf das dekadente Leben in Pompeji.

Nachdem 1883 der Krakatau ausgebrochen war und 40 000 Menschen umkamen, erlebte der fundamentalistische Islam einen Aufschwung. Allah habe die indonesische Bevölkerung gezüchtigt, da diese sich von den Holländern beherrschen ließe. Und 1906, als die kalifornische Erde bebte, war eine frisch gegründete Kirche in Los Angeles überfüllt. Sehr eindringlich predigte man die Umkehr. Es war der Startschuss für den bis heute in den USA andauernden Siegeszug der protestantischen Charismatiker.

Ein Zeichen von Sektierertum oder Fundamentalismus ist es meist, wenn man heute die Formel vom zürnenden Gott weiterträgt. Rabbiner Baruch Rabinovitz sprach für das Mehrheitsjudentum, als er davor warnte, die Naturkatastrophen als göttliche Strafen oder apokalyptische Ereignisse zu deuten; sie seien "verzweifelte Schreie der Natur, die die Menschheit immer wieder um ihre Aufmerksamkeit mahnt."

Das Kommen des Messias ist demnach nicht zu erwarten. Ebenso konsensfähig geriet der Aufruf Papst Benedikts, sich den Opfern zuzuwenden - nun, da "die menschliche Gesellschaft von tiefer Dunkelheit umgeben" scheint und sie "von dramatischen Ereignissen erschüttert und von Naturkatastrophen schwer heimgesucht wird."

Trotz der säkularen Redeweise, auch trotz aller Spendenbereitschaft bleibt ein Rest von Mysterium, den keine Vernunft erhellt. Wenn die Natur "schreit", ist sie dann nicht ein beseeltes Individuum und insofern eine Schöpfung, die im Schreien ihren Schöpfer bezeugt? Wenn die Menschen "schwer heimgesucht" werden, steht hinter den Katastrophen dann nicht ein "Heimsucher", ein wütender Gott?

Auch linke Zeitungen schreiben von Sintflut und Apokalypse. Die Sprache verwahrt die traditionellen Deutungsmuster, die, ganz unvermittelt, kaum jemand benennt. Unsere Sprache, weniger unser Bewusstsein, hört nicht auf, die Frage nach dem Sinn zu stellen.

Daraus folgt die Notwendigkeit einer breiten, einer im besten Sinne furiosen Debatte über unser Bild von der Erde und damit auch vom Menschen. Der Wiener Kardinal Schönborn hat jüngst in einem Vortrag seine Überzeugung bekräftigt, Gott erhalte die Schöpfung und lenke sie auf ein Ziel zu. Was aber folgt daraus für die Toten des guatemaltekischen Leichendorfs? Hinzu kommt: In der Vergangenheit gingen große Erzählungen und große Ideen Hand in Hand.

Man schrie Zeter und Mordio und forschte zugleich nach Mitteln und Wegen, die Folgen des Unbeherrschbaren zu meistern. Man klagte Gott an oder die Mächte und Gewalten und machte zugleich Pläne, damit mehr Menschen das nächste Unwetter überlebten. Wenn Leid nicht mehr zur Reflexion drängt, wenn es fremdes, stummes, fernes Leid bleibt, wird es von Mal zu Mal schwieriger, produktive Kräfte der Leidminderung, der Leidvorsorge in Gang zu setzen. Irgendwann trifft die Katastrophe dann uns, und keinen wird es interessieren.

© SZ vom 11.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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