Dresden:Angeklagter auf dem Dach

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Stephanies Peiniger Mario M. flieht beim Hofgang und verharrt stundenlang auf dem Gefängnisgebäude - auch nach Einbruch der Dunkelheit.

Christiane Kohl

Auf den ersten Blick macht der Mann auf dem Flachdach einen fast entspannten Eindruck: Groß und breitbeinig steht er da, hält den Kopf ein wenig schief; zuweilen huscht ein Grinsen über sein Gesicht. Zwei Polizeipsychologen, die in einem Personenkorb mit einem Kran an das Flachdach herangefahren sind, haben den Mann in ein Gespräch verwickelt. Nur seine Hände verraten, wie sehr der Mann auf dem Dach tatsächlich unter Spannung steht: Mario M. hat die Hände in die Hosentaschen gesteckt, doch an den Beulen, die sie in der schwarzen Jogginghose werfen, erkennt man: Die Hände sind zur Faust geballt.

Die Szene auf dem Dresdner Gefängnisdach ist eine weitere Etappe im Drama, das die Schülerin Stephanie seit Anfang dieses Jahres durchleben muss. Am 11. Januar war sie auf dem Schulweg von Mario M. entführt worden, 36 Tage lang hielt der arbeitslose Monteur die damals 13-Jährige in seiner Gewalt, quälte und vergewaltigte sie immer wieder. Anfang dieser Woche war im Dresdner Landgericht das Hauptverfahren gegen Mario M. eröffnet worden.

Psychologenteam abgezogen

Bis am späten Abend war es der Polizei nicht gelungen, den vorbestraften Sexualstraftäter zum Verlassen des Daches zu bewegen. Mario M. harrte auch weiter auf dem Gebäude aus, als die Polizei das Psychologenteam abzog und die Medienvertreter anwies, die Scheinwerfer auszuschalten. Der Flüchtige hatte den ganzen Tag lang nichts gegessen und getrunken, das Bedürfnis, eine Toilette aufzusuchen, muss er wohl unterdrückt haben, solange Kameras auf ihn gerichtet waren. Aus Polizeikreisen hieß es, zwar sei eine Aktion zur Überwältigung des Häftlings in Erwägung gezogen worden. Man strebe aber eine Verhandlungslösung an und versuche, Vertrauen zu ihm aufzubauen. Für die Polizei bestehe keine Notwendigkeit, ein Risiko einzugehen. Man werde nur eingreifen, wenn keine Gefahr entstehe.

Schon am ersten Tag des Prozesses war es zu einem Zwischenfall gekommen. Beim Verlesen der Anklageschrift sprang Mario M. abrupt auf, und sechs Beamte waren nötig, um den bulligen Mann unter Kontrolle zu bringen. Im Gefängnis überrumpelte Mario M. seine Bewacher durch blitzschnelle Bewegungen. Offenbar hatte man ihm keine Handschellen angelegt. Morgens gegen halb acht riss er sich beim Hofgang von seinen Bewachern los, rannte auf das Haftgebäude zu und kletterte die Gitterfenster hinauf bis zum vierten Stock. Dort stand er den ganzen Tag, angepeilt von Fernsehkameras, Tele-Objektiven der Pressefotografen und von den Foto-Handys der vielen Schaulustigen.

Die Justizvollzugsanstalt in Dresden liegt in einem alten Kasernenviertel am Rande der Stadt. Weiß und kalt stechen die Betonmauern der Anstalt aus dem schmutzigen Grau der heruntergekommenen Bebauung rundum hervor. Im Jahr 2000 wurde das 70 Millionen teure Gebäude eröffnet, der Gefängnisbau gilt als einer der sichersten in Deutschland. Wie Mario M. unter diesen Bedingungen auf das Flachdach flüchten konnte, hat offenbar mit menschlichem Versagen zu tun: Die Bewacher, sagt Gefängnisdirektor Ulrich Schwarzer, seien eben "um einen Wimpernschlag" langsamer gewesen als der Monteur.

Sprungtücher keine Lösung

Fluchtgefahr, darauf legt der Sprecher des Justizministeriums Martin Marx großen Wert, habe jedoch "zu keiner Zeit bestanden". Von dem rund 13 Meter hohen Dach aus könne Mario M. "definitiv nicht fliehen", so Marx. Es sei unmöglich, den Bereich um das Gebäude mit Sprungtüchern zu sichern, sagte ein Sprecher der Polizei, das Haus sei viel zu groß. Auch der Einsatz eines Betäubungsgewehrs komme nicht in Frage, weil auch dann die Gefahr bestünde, dass M. in die Tiefe stürzt. Dass Stephanies Peiniger seinem Leben ein Ende setzen wolle, hält Justizsprecher Marx für unwahrscheinlich - ganz offensichtlich gehe es Mario M. um etwas anderes. Aber um was? Über den Inhalt der Gespräche, die der mutmaßliche Sextäter vom Dach aus mit den beiden Beamten führte, lassen die Behörden nichts verlauten. Gerüchten zufolge hieß es, Mario M. wolle die Absetzung des Richters im Prozess, Tom Maciejewski erwirken, der als hartnäckiger Strafverfolger gilt. Möglicherweise wollte Mario M. aber auch verhindern, dass die Videos im Gericht gezeigt werden, die er von Stephanie gemacht hat. Die Bilder sind ein wichtiges Beweismittel der Staatsanwaltschaft, denn sie zeigen die schrecklichen Peinigungen, die Mario M. der Schülerin Stephanie im Verlauf der Gefangenschaft zugefügt hat.

Nach dem Vorfall auf dem Gefängnisdach reagierte Stephanies Vater tief erschrocken: Unter diesen Umständen könne seine Tochter keinesfalls im Prozess aussagen, ihre Sicherheit sei nicht gewährleistet. Sachsens Justizminister Geert Mackenroth (CDU) räumte Fehler ein und kündigte an, mögliche Konsequenzen aus dem Vorfall zu prüfen, seinen eigenen Rücktritt eingeschlossen. Auch Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) schloss personelle Konsequenzen nicht aus. Stephanies Anwalt Thomas Kämmer sagte, ein Zeugenauftritt des Mädchens vor Gericht sei mit einem Sicherheitsrisiko verbunden, denn die Justiz sei nicht einmal in der Lage, einen hochgefährlichen Täter wie Mario M. in einer JVA unter Kontrolle zu bringen. Kämmer forderte die sofortige Suspendierung des Leiters der Dresdner JVA, Ulrich Schwarzer. Der Anwalt verlangte zudem die Aufklärung des Falles durch einen Untersuchungsausschuss im Landtag von Sachsen.

© SZ vom 8.11.06 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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