Die Sicherheitsgesellschaft:Joghurt an Kühlschrank: Bin abgelaufen!

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Die RFID-Technologie lässt Produkte miteinander tuscheln und verrät alles über deren Besitzer.

Von Ulrich Kühne

Einer der ersten Fernsehspots, mit denen für die neue "RFID"-Technologie geworben wurde, ging ungefähr so:

Treffen sich zwei Geschäftsleute. Der eine: "Sie haben aber einen tollen Schlips!" . . .

Was danach passierte, spottet jeder Beschreibung. Jedenfalls zieht der Schlips-Neider sein Handy aus der Tasche und hält es seinem Gegenüber an die Brust. Wie von Geisterhand erscheint auf dem Handydisplay die Internetwerbung des Krawattenherstellers.

Ein Fingertipp auf den "Kaufen!"-Button und mit der Postzustellung am nächsten Morgen sind beide Geschäftsleute stolze Besitzer der gleichen Krawatte.

Manche Revolution hat als Komödie begonnen. Was wie die Selbstpersiflage des globalisierten Kapitalismus aussieht - eine Maßnahme zur Uniformierung des Krawattenmusters als letztem Individuationsmerkmal im Executive Dress - ist in ihrer Auswirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft nur mit der Erfindung des Internets zu vergleichen.

Im Unterschied zu anderen Technologien, die eigens für die Terrorismusbekämpfung entwickelt wurden, sind die dramatischen Möglichkeiten zur Ausspionierung von Privatpersonen eher zufällige Nebenwirkungen der wegen ihrer unbestreitbaren ökonomischen Vorteile praktisch unvermeidlichen RFID-Technologie.

Die RFID-Technologie ist eigentlich uralt, seit langem wird sie für die Diebstahlsicherung von Kaufhäusern oder für die Freund-Feind-Erkennung von Kampfflugzeugen eingesetzt.

"RFID" steht für "Radio Frequency IDentification". Ein Sender strahlt eine elektromagnetische Welle ab. Ein so genannter Transponder, der ohne eigene Stromversorgung auskommt, wird durch die Energie der Welle aktiviert und sendet eine Information wie ein Echo an den Empfänger.

Billiger, leistungsfähiger

Bisher waren die Transponder vergleichsweise große und teure Geräte und die Information meist nur wenige Bits: Die Ware wurde bezahlt oder nicht bezahlt, das Flugzeug gehört zur Nato oder nicht zur Nato.

In den vergangenen Jahren wurden die Transponder wesentlich kleiner - kleiner als ein Fingernagel -, billiger, leistungsfähiger und in ihrer Funktionalität weltweit normiert von einer Firma namens "EPC Global Inc.", einem Nachfolger des Unternehmens, das uns bereits die auf fast allen Waren angebrachten Strichcodes beschert hatte.

Noch für dieses Jahr ist zu erwarten, dass der Stückpreis für RFID-Etiketten auf weniger als ein Cent fallen wird. Für das nächste, dass sie auf allen Waren die Strichcodes ersetzen werden.

Im Unterschied zum Strichcode ist der Nummernraum des RFID-Etiketts so groß, dass jetzt nicht mehr bloß Produktklassen, sondern jeder Einzelgegenstand mit einer individuellen Kennnummer und seinem individuellen Datensatz ausgestattet wird. Jeder Joghurtbecher wird von seinem Nachbarn verschieden sein. Die Entfremdung des Produkts von seiner Herstellungsgeschichte, die anonyme Massenware des Weltmarkts gehören der Vergangenheit an.

RFID kann weit mehr. Dank neuer Techniken von Kunststoffhalbleitern wird es möglich sein, die Herstellung des Transponders direkt mit der Herstellung von Gehäuse- oder Verpackungsteilen zu verbinden. Ein ablösbares Etikett wird nicht mehr nötig sein. Und es ist schon gelungen, den Transponder mit zahlreichen Zusatzfunktionen auszustatten.

Beispielsweise die Temperaturmessung - der intelligente Joghurtbecher, der seine eigene Kühlkette überwacht und meldet, wenn sein Inhalt verdorben ist. Die Fertignahrung, die dem Mikrowellenherd ihre eigene Garzeit mitteilt. Man möchte in den Möglichkeiten schwelgen.

Ich weiß, was du gekauft hast

Der wichtigste Vorteil von RFID liegt in der Möglichkeit, ohne Sichtkontakt zum Transponder die Daten aus einer Entfernung von - je nach Art des Lesegeräts - einigen Zentimetern bis einigen Dutzend Metern auszulesen. Heerscharen von Mitarbeitern müssen gegenwärtig noch dafür eingesetzt werden, Warenströme zu kontrollieren, zu lenken, abzurechnen, Lieferscheine auszufüllen, Lagerbestände zu prüfen, Kunden abzukassieren.

All dies ist jetzt vollständig automatisierbar. Schlangen an der Supermarktkasse sind bald schon Geschichte. Der moderne Kunde stopft sich im Supermarkt der Zukunft die Taschen voll wie ehemals ein Ladendieb. Was er eingepackt hat, erfasst ein RFID-Lesegerät am Ausgang.

Auch der Zahlvorgang ließe sich automatisieren, weil auch Kreditkarten in Kürze wohl mit einem RFID-Chip, der den Fingerabdruck des rechtmäßigen Besitzers gespeichert hat, ausgestattet werden können. Theoretisch genügt es dann, am Ausgang des Supermarkts seinen Daumen zu zeigen und zu gehen.

Als die Metro-Supermarktgruppe im vergangenen Jahr einen experimentellen "Future-Store" mit dieser Bezahltechnologie im nordrhein-westfälischen Rheinberg eröffnet hatte, musste sie jedoch erfahren, dass die Technik noch nicht ganz ausgereift war. Auch wussten die Kunden deren Vorteile noch nicht zu schätzen. Der Metro wurde der "Big Brother Award" verliehen, und es kam zu Protesten vor der Filiale von Bürgern, die sich gegen das Ausspionieren ihrer Einkäufe wehren wollten.

Mit der vollständigen Individuierung der Massenware verschwindet ein Fundament des Kapitalismus, wie ihn Theoretiker und Kritiker bisher beschrieben haben: der anonyme Markt, bei dem ein Käufer allein einen Geldbetrag von sich her geben musste, um die Ware zu erhalten.

Mit dem universellen Einsatz des RFID-Chips wechseln bei jedem Kauf nicht bloß Geld und Waren ihren Besitzer, sondern auch Daten. Die Daten lassen sich speichern, vergleichen und vielfältig weiterverarbeiten, von der Marktforschung bis zur Personenüberwachung. Ein Bankräuber könnte alleine dadurch überführt werden, dass der RFID-Chip in seiner Schuhsohle die Daten preisgibt, wann, wo und von wem der Schuh gekauft wurde.

Nicht nur Supermarktbesitzer und Geheimdienste, jedermann kann sich mit den Lesegeräten ausstatten, sie unbemerkt überall installieren, unter Türschwellen, an Bahnhöfen, um die Daten sämtlicher RFID-Chips in der näheren Umgebung auszulesen, sie zu sammeln und Personen- und Bewegungsprofile zu erstellen.

Die Möglichkeit, RFID-Chips mittels kryptographischer Algorithmen fälschungssicher zu machen, hat schon zu dem Vorschlag geführt, zukünftig auch Ausweise und Geldscheine mit RFID-Chips zu versehen.

Wir werden zu gläsernen Bürgern

Auf der Messe Cebit in Hannover wurde gerade der Prototyp eines RFID-Reisepasses vorgestellt. Wir werden zu gläsernen Bürgern. Trotzdem ist nur schwer vorstellbar, dass es ökonomisch eine Alternative zur RFID-Technologie gibt. Wenn der Verbraucher in Zukunft die Herkunft jedes einzelnen Futtersacks ermittelt haben möchte, der in den Schweinebraten des Abendessens eingegangen ist - ob darunter vielleicht genmanipulierte Sojabohnen waren -, dann lässt sich der dafür nötige Datenerfassungsbedarf nur über RFID lösen.

Wenn zukünftig alle Geräte und Verpackungen effizient recycelt werden sollen, dann geht das nur mittels automatischer Sortier- und Demontageanlagen, die über RFID-Kennungen in Abfallprodukten gesteuert werden.

Wo Technik zur Bedrohung wird, bietet sie auch ihre Hilfe an. Natürlich könnte man das unbeabsichtigte oder unerlaubte Ablesen von RFID-Chips durch einen Faraday'schen Käfig um alle sensitiven Produkte verhindern. Vielleicht werden Kettenhemden wieder modern und Edelstahlgeldbörsen. Fortschrittlicher ist da eine Lösung, die gerade von der Datensicherheitsfirma RSA vorgestellt wurde: der anarchistische RFID-Störchip.

Er funktioniert wie ein normales RFID-Produktetikett, nur ist er so programmiert, sich auf jede Anfrage eines Lesegeräts vorzudrängeln und ein elektronisches "Ja! Ich! Ich! Ich!" in Form von vielen unsinnigen Zufallszahlen auszuspucken.

Der Empfang der Daten von den richtigen RFID-Chips geht in dem entstehenden Chaos unter oder wird zumindest sehr verzögert. Auf der jüngsten Cebit wurden Einkaufstüten mit eingebautem RFID-Störchip vorgestellt. Die Zukunft der Konsumgesellschaft hat gerade erst begonnen.

© SZ vom 3.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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