Die kosmische Scheibe von Nebra:Leuchten am geschmiedeten Himmel

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Wie der Landesarchäologe Harald Meller zu einem neuen Mitarbeiter kam - und Sachsen-Anhalt zu einem Prunkstück, mit dem es glänzen kann.

Unter Josef Langes Füßen ist nur die braune Erde eines platten Kartoffelackers. Dennoch bremst der kräftige Mann mitten auf dem Feld. "Hier haben wir einen sehr schönen Sound", flüstert er und horcht in seine Kopfhörer hinein. Darin piepst es unruhig. So wie medizinische Geräte auf einer Intensivstation klingen, wenn Patienten in Gefahr sind. Josef Lange zieht seinen Metalldetektor noch einmal über die Erde, bis aus dem Piepsen ein Dauerton wird. Das ist das Signal zum Graben. "Entweder ist es was Vernünftiges", murmelt der Mann in der blauen Latzhose, "oder 'ne Konservenbüchse."

Einmalig: Landesarchäologe Meller mit Kopie der Himmelsscheibe vor einer Projektion des Originals. (Foto: Foto: dpa)

"Hätte aber genauso gut Bronze sein können"

Mit dem kurzen Spaten, den er stets in der linken Hand trägt, bringt der 49-Jährige eine Kartoffel zum Vorschein. Dann glänzt es golden im Acker, und er hält ein kleines Zahnrad zwischen Daumen und Zeigefinger. "Aus Messing, von einer alten Uhr wahrscheinlich." Er wirft es zurück, es ist wertlos. Wie alles, was er an diesem Morgen ausbuddelt. "Hätte aber genauso gut Bronze sein können", brummt der Mann mit dem Schnauzer. "Der Sound ist einfach zu ähnlich."

Die Erde ist voll Schrott auf diesem öden Feld bei Naumburg in Sachsen-Anhalt: alte Dosen, wertlose Münzen, Flaschendeckel. Oft zieht Lange in dieser Region viele Stunden vergeblich durch die Natur. In Mäuseschritten, damit sein Detektor wirklich jedes Stück Erde durchsucht. Und immer in der Hoffnung auf einen großen Fund. Eine Entdeckung, die diesen "besonderen Kick im Augenblick des Findens auslöst".

Sensationelle Erkenntnisse

Die Gegend südöstlich des Harzes übt auf Sondengänger eine besondere Anziehungskraft aus. Hier ist neben vielen anderen antiken Schätzen die 3600 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra gefunden worden - die früheste bekannte Darstellung des Kosmos in der Menschheitsgeschichte, eine der spektakulärsten Trouvaillen der letzten Jahrzehnte. Ihre beiden Entdecker hielten das Sensationsstück zunächst für einen alten Eimerdeckel. Leicht hätte die Kostbarkeit auf dem Schrott landen können, anstatt ein Quell immer neuer faszinierender Erkenntnisse über die Bronzezeit in Deutschland zu werden.

Fast zwei Jahre nach dem filmreifen Coup, mit dem die Himmelsscheibe in der Schweiz ihren Hehlern entrissen wurde, liegen nun neue Untersuchungsergebnisse und Deutungen vor. "Es ist, als ob eine Tür in die Vergangenheit sich für uns einen kurzen Moment öffnet," begeistert sich Sachsen-Anhalts Landesarchäologe Harald Meller, der die Erforschung der Scheibe von Halle aus koordiniert.

Raubgräber, die Militaria suchten

Die Entdecker, die das gute Stück im Juli 1999 auf dem Mittelberg bei Nebra, unweit von Halle, aus einem Acker bargen, trieb kein Forscherdrang. Es waren Raubgräber, die Militaria suchten. Gut 30 000 solcher illegaler Schatzsucher ziehen nach Schätzung von Experten in Deutschland regelmäßig mit Sonden übers Land. Technologisch hochgerüstet, fahnden sie auch bei Dunkelheit mit Nachtsichtgeräten nach unterirdischen Schätzen - oft, um sie auf dem schwarzen Markt zu Geld zu machen.

Durch wilde Grabungen werden freilich Fundstellen zerstört und für Archäologen wertlos. All die kostbaren Informationen, die ein Experte schon aus derLage von Münzen oder Vasen gewinnt, gehen verloren. Niemand weiß, welche Erkenntnisse damit der Menschheit über ihre Vergangenheit vorenthalten werden.

Auch im Fall der Himmelsscheibe wurde deren Deutung wesentlich erschwert, weil der Fundort zunächst nicht bekannt war. Erst im Nachhinein konnte er erschlossen werden - viele Löcher, von Raubgräbern gebuddelt, zerklüften dort die Erde. "Sachsen-Anhalt ist ein El Dorado für Raubgräber geworden", schimpft der Landesarchäologe Meller, ein temperamentvoller Bayer, der in Halle auch das äußerst anschauliche Landesmuseum für Vorgeschichte leitet. "Die Mauer war kaum gefallen, da kamen die Ersten, um zu plündern."

Dabei sind den Amateur-Archäologendurchaus Grenzen gesetzt. Zwar dürfen sie mit Sonden die Felder begehen (was den Archäologen immer noch zuviel des Erlaubten ist), jedoch ist es verboten zu graben, wenn das Gerät Laut gibt. Erst recht darf man entdeckte Schätze nicht behalten.

Dabei ist nicht jeder Sondengänger ein potentieller Krimineller. Mancher Hobby-Forscher hat sich schon als Kind für die Bronzezeit interessiert, so wie Josef Lange, der den Acker bei Naumburg durchforscht. Der gelernte Metallfacharbeiter aus Möllern, ursprünglich in Gelsenkirchen beheimatet, ließ sich freilich vor sechs Jahren einmal von einem Händler, der ausgegrabene Fundstücke verkaufte, mitnehmen und durfte schließlich für ihn graben, wie ein Lehrling.

Ihm entging dabei nicht, dass sein Führer bevorzugt im Dunkeln "durch den Wald huschte wie ein scheues Rehlein". Zugleich spürte er den Kitzel, wenn die Sonde anschlug. Er kaufte einen eigenen Detektor und lernte, heiße Stellen aufzuspüren. Schon mit Kleinfunden wie Münzen oder Militaria wird ein Geschäft gemacht, erst recht mit Kostbarkeiten aus der Bronzezeit.

"Stunde der Entscheidung"

Josef Lange kam im Frühling 2001 an einen Scheideweg, es schlug seine "Stunde der Entscheidung". Damals gelang ihm auf einem Berg in Sachsen-Anhalt ein atemberaubender Bronze-Fund: kleine Beile, Armreifen, ein fein gearbeiteter Dolch. Schon die Grabung wäre nicht erlaubt gewesen, den Fund hätte er sofort dem Land übergeben müssen. Aber Lange fand schnell Kaufinteressenten. "Die Angebote waren nicht so", bekennt er, "dass man gleich nein sagt". Ein neuer Detektor wurde ihm versprochen, oder 5000 DM.

Doch ihm missfiel, dass der Interessent den Fund aufteilen wollte. Das würde ein richtiger Sammler nicht machen, meinte er - und wollte lieber mit einem Museum verhandeln.

So geriet Josef Lange an den Landesarchäologen Meller. Der rügte ihn zwar wegen der Grabung, beschloss aber, Langes Leidenschaft für seine Ziele zu nutzen. Der Amateur-Forscher bekam einen Crash-Kurs und wurde als Bodendenkmalpfleger engagiert. Jetzt gräbt er mit offiziellem Ausweis fürs Amt. "Ich habe Spaß ohne Ende", freut er sich. Auf seinem Sweatshirt prangt ein Bild der Himmelsscheibe.

Dass diese Kostbarkeit für die Forschung gerettet werden konnte, ist im wesentlichen Harald Meller zu verdanken. Im Mai 2001 bekam er zum ersten Mal Wind von ihrer Existenz: In Berlin zeigte ihm ein Kollege Fotos von der Scheibe sowie von Schwertern und Beilen, die am selben Ort gefunden worden waren.

"Spektakulärste Fund, den wir je gesehen hatten"

Die Amateuraufnahmen waren unscharf. "Aber es war eindeutig", erinnert er sich, "dass dies der spektakulärste Fund war, den wir je gesehen hatten." Die Ware hatte mehrfach den Besitzer gewechselt. 31.000 DM hatten die Raubgräber von einem Zwischenhändler erhalten, inzwischen wollten Hehler eine Million.

Die Spur zu ihnen hatte sich, als Meller die Fotos zu Gesicht bekam, schon wieder verloren. Erst Monate später wurde ein neuer Kontakt aufgebaut, und Meller machte zum Schein ein Angebot. Im Januar 2002 kam es zum Showdown im Untergeschoss des Baseler Hilton-Hotels, beobachtet von 50 Schweizer Kriminalbeamten. Meller reiste als Sachkundiger an, der die Echtheit der Scheibe prüfen sollte.

Jeder Fachmann wäre vermutlich vor Lachen explodiert, wenn er gesehen hätte, wie Meller da Qualm über einem Schwert aufsteigen und Magnesiumstäbchen aus seinem extra gebauten Chemie-Koffer leuchten ließ.

Schließlich rückte der Anbieter auch die Himmelsscheibe heraus, die er bis dahin in einem Handtuch unter seinem Hemd verborgen hatte. "Ich hatte sie endlich", berichtet Meller, "und wartete sehnsüchtig auf die Polizei." Die griff erst im letzten Moment ein, als der Archäologe schon fürchtete, die Scheibe wieder abgeben zu müssen.

Nun liegt sie in Halle in einem Tresor, ein Mitarbeiter hebt sie mit weißen Handschuhen aus einem grauen Pappkarton. Wenn man sie behutsam - am besten nur mit den Fingerspitzen - anhebt, fällt ihr enormes Gewicht auf. Die dünne Scheibe mit dem Durchmesser einer Langspielplatte wiegt 2050 Gramm. Das Gold glänzt imponierend kräftig, wenn man bedenkt, wie es dem Objekt ergangen ist.

Die Entdecker schlugen beim Ausgraben mit einem Zimmermannshammer Goldteile ab, die nun wieder eingesetzt werden. Und der erste Zwischenhändler legte die Scheibe zur Reinigung "drei Tage in Pril und schrubbte sie mit Akopads", wie Meller sagt. Die feinen Kratzer mindern indes nicht das Empfinden, dass das Objekt phantastische Geheimnisse birgt.

Harald Meller fährt mit den Fingern über die goldenen Zeichen. Er zeichnet den Sichelmond nach und streichelt die leicht angeschlagene Sonne, die auch ein Vollmond sein könnte. Er weist auf die beiden Bögen, die an Schiffe erinnern und deutet auf die 32 glänzenden Punkte. Einige von ihnen stellen vermutlich das Siebengestirn der Plejaden dar. Sie haben für die Deutung eine Schlüsselfunktion, womöglich sind es Ansätze eines Kalenders.

Der Bochumer Astrophysiker Wolfhard Schlosser hat die Stellung der Sterne zueinander analysiert und ist zu dem Schluss gekommen, hier sei womöglich das nächtliche Himmelsbild am Fundort zu Beginn und zum Ende des bäuerlichen Jahres dargestellt. "So wurden lebenswichtige Daten fixiert", erklärt Harald Meller, "der Zeitpunkt, da die Saat beginnen muss und der Zeitpunkt der Erntezeit."

Zugleich wird die Anordnung der Horizontbögen am Rand der Scheibe so interpretiert, dass mit ihnen der Zeitpunkt von Winter- und Sommersonnenwende bestimmt werden konnte. Die Untersuchungen haben ferner ergeben, dass die Scheibe von ihren antiken Besitzern in vier Phasen verändert und ergänzt wurde und zuletzt auch eine religiöse Bedeutung gehabt haben dürfte. Keine Erklärung gibt es bisher für die erstaunlichen Erkenntnisse über die Herkunft des Materials. Das Kupfer stammt vermutlich aus den Ostalpen. Die Goldteile könnten aus Edelmetall aus Westrumänien gefertigt sein.

Blick in die Sonne

Ein besonderer Reiz besteht für Meller darin, die Scheibe in Verbindung zu weiteren spektakulären Entdeckungen zu sehen. So haben Archäologen in Goseck, das ebenfalls bei Halle liegt und keine 30 Kilometer vom Fundort der Scheibe entfernt ist, das vermutlich älteste Sonnenobservatorium Europas entdeckt. Es ist viel älter als das berühmte Stonehenge in England. Die 7000 Jahre alte Anlage diente offenbar dazu, die Wendezeiten der Sonne zu beobachten. Die weitaus jüngere Himmelsscheibe von Nebra, so vermuten nun die Forscher, könnte das Ergebnis einer jahrhundertelangen Himmelsbeobachtung sein, die in Goseck ihren Anfang nahm.

Noch viele Jahre werden die Entdeckungen, so verspricht Meller, die Forscher zu neuen Untersuchungen herausfordern. Das macht sie auch für Laien faszinierend. Der Chef-Archäologe hat tausend Zuschriften von Hobby-Astronomen bekommen, die eigene Interpretationen entwickeln. Über eine Million mal wurde die Internet-Seite zur Scheibe (www.arch.lsa.de) aufgerufen, und lange vor der für Oktober 2004 geplanten Ausstellung "Der geschmiedete Himmel" im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle entwickelt sich die Scheibe von Nebra schon jetzt zu einem erfolgreichen Marketing-Artikel des Landes Sachsen-Anhalt.

Inzwischen beschäftigt Wirtschaftsminister Horst Rehberger sich persönlich mit den Chancen, das Fundstück für das wirtschaftlich schwache Land als Touristen-Attraktion zu nutzen.

Unterdes locken die Schlagzeilen offenbar weitere Raubgräber an - obwohl den Entdeckern der Scheibe und den Hehlern der Prozess gemacht wurde und gegen die Raubgräber Bewährungsstrafen ausgesprochen wurden. "Endlich hat ein Gericht Raubgräberei nicht als Kavaliersdelikt angesehen", freut sich der Archäologe Meller. Aber er macht sich keine Illusionen: "Die Profis in diesem ältesten Gewerbe der Welt werden nicht abgeschreckt."

Umso mehr will Meller die Hobby-Archäologen für die Wissenschaft gewinnen - so wie Josef Lange. Der hat vor kurzem sogar eine Prämie für einen Verbesserungsvorschlag bekommen. Er hat sich ein Raubgräber-Warnsystem ausgedacht. Damit Förster oder Waldarbeiter künftig Alarm schlagen, wenn Sondengänger verdächtig erscheinen. Auch jetzt im Winter, weiß der Fachmann, ruhen die Schatzsucher nicht.

SZ vom 22.12.2003

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