Der "100ste" Quelle-Katalog:Aus einer Enzyklopädie der Gegenwart

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Knapp zwölf Millionen besitzen ihn, und angeblich haben vierzig Prozent der deutschen Bevölkerung "Kontakt zum Quelle-Katalog", wie immer der aussehen mag.

Von Willi Winkler

"Der Bestseller des Jahres ist unter Ausschluss der (literarischen) Öffentlichkeit erschienen; kein Hahn hat nach ihm gekräht, kein Rezensent hat ihn unter die Lupe genommen. Auf der Frankfurter Buchmesse sah man sich vergeblich nach ihm um. Kein Buchhändler legt ihn ins Fenster. Trotzdem hat das Werk in wenigen Wochen eine Millionenauflage erlebt." So geheimnisvoll begann Hans Magnus Enzensberger vor 43 Jahren sein Feuilleton über "Unsere kleinbürgerliche Hölle". Der Bestseller - damals noch ein ganz neuer Begriff und selbst im Buchgewerbe eher ein Schimpf- als ein Fremdwort -, von dem der Dichter da drängend raunte, war der "Herbstkatalog des Versandhauses N. in Frankfurt am Main".

Das Haus Neckermann in Frankfurt versendet nicht mehr, der größte Katalog erscheint längst bei Quelle in Nürnberg, Quelle gehört zum Karstadt-Konzern, und seine Auflage hat sich - die kleinbürgerliche Hölle höret nimmer auf - seit 1960 noch weiter erhöht. Knapp zwölf Millionen erreicht sie jetzt, und angeblich haben vierzig Prozent der deutschen Bevölkerung, wie immer der aussehen mag, "Kontakt zum Quelle-Katalog".

Starke Versandmacht

Niemand muss sich mehr nach ihm "umsehen", er ist kinderleicht übers Internet oder mit sogenannten Heißlinien auch telefonisch zu bestellen und kommt nach drei Tagen ins Haus. Die Post besorgt den Versand der (ohne Verpackung) 2305 Gramm schweren Päckchen. Der Versand der anschließend bestellten Waren bedeutet noch mehr Umsatz, so dass das Haus Quelle in der Vergangenheit mehrfach mit eigenmächtiger Beförderung drohen konnte.

Macht das den Katalog schon kleinbürgerlich oder handelt es sich hier nicht eher um einen gewaltigen Wirtschaftsfaktor? Diese Frage soll fürs erste hinter die nach der Literarizität des Bestsellers zurücktreten.

Sprache - in schöner Fremdheit

Die Sprache des Katalogs ist neusachlich und versteigt sich nur selten zu Lyrismen. Sie informiert verlässlich über Maße, Gewichte und Preise, aber auch über Stretch-Bund, Kontrastnähte oder den geschraubten Ahornhals. In ihrer schönen Fremdheit eignet sie sich vorzüglich zu einem katalogisierenden, einem späten Benn- oder einem frühen Enzensberger-Gedicht:

"Witzige mechanische Eieruhren in edler Ausführung / Hitzebeständiger Güteglasdeckel zum Sichtkochen / Dekorativ die aufwändige Blütenstickerei / Perfekter Schutz vor Wind und Regen / Schleuderreduzierung. Energiereffizienz. Hochvolt-Halogen-Kombifluter / Duo-Decke. Teleskoprohr. Edelhaar / Allergieneutral. Quereleastisch. Servicestark. Schadstoffgeprüft / Bitte lesen Sie die Bedienungsanleitung."

Berühmter Grüßaugust

Der alte Neckermann-Katalog wurde eingeleitet von familiären Vertraulichkeiten. 1960 durfte "mein Katalog die Reise zu Millionen Kunden" antreten. Heute wirkt der aus Funk und Fernsehen bekannte Unterhaltungskünstler Günter Jauch als Grüßaugust für den "Katalog mit den vielen Extras!" Er (G. Jauch natürlich, doch ist seine Rollenprosa naturidentisch mit der des beworbenen Produkts) verrät den Lesern in einem poetologischen, aber auch etwas tautologischen Vorwort, "dass so ein 100ster Katalog nicht nur besonders schön, sondern auch voller besonderer Angebote ist".

Zum Beispiel der "Mars 'Energy' Running- und Freizeitschuh" für 29,99 Euro. "Style und Preis", das wird Herr Jauch meinen, "erinnern an die 70er Jahre! Qualität und Verarbeitung entsprechen unserem neuen Jahrtausend!" Oder der "desirée Bügel-BH mit Luftkissen (herausnehmbar!) für ein atemberaubendes Dekolleté" für 19,99 Euro. Dem Herrn sagt vielleicht das praktische "Hemd mit Vario-Kragen" mehr zu: "Dieser beliebte Kragen ist sehr bequem, denn er hat keinen Knopf und so können Sie die Kragenweite - ob mit oder ohne Krawatte - ganz locker regulieren."

Kleinbürger im Würgegriff

Spätestens hier jedoch müsste die Ideologiekritik einsetzen. Zwar ist alles bunt, reich ausgestattet, vorbildlich demokratisch, aber ist dieser angeblich verstellbare, knopflose Kragen nicht die schlagende Metapher für den Kapitalismus, der den Kleinbürger würgt und würgt und an der Ausbildung des richtigen Bewusstseins hindert?, in die eiserne Zwinge nimmt? Der Kleinbürger, so hat ihn Enzensberger wenig früher in einem Gedicht demaskiert, fährt mit der Straßenbahn, geht arbeiten, weiß nichts von der großen weiten Welt, riecht schlecht, vor allem aber hat er einen schlechten Geschmack. Den bedient, heute nicht anders als 1960, der Katalog.

Viel Englisches dabei

Das Angebot hat sich nur streckenweis den neuern Zeiten angepasst. Viel Englisches ist dazu gekommen, an Koppelungen von Hauptwörtern wird gespart, aber weht da nicht ein emanzipatives Lüfterl? Es kann die beste Hausfrau nicht den ganzen Tag in der Küche stehen, sie muss es draußen im feindlichen Leben krachen lassen. Dafür gibt es eine Bluse aus 100 Prozent Polyester, ein "pflegeleichtes Basic-Modell in Crash-Optik. Ideal für Urlaub und Freizeit". Die Bluse, das ist ja wohl das mindeste, "sitzt perfekt und knittert nicht", wenn es hart auf hart kommt. Die Bluse jedenfalls kommt in den Farben türkis, rot, camel und weiß und ist größenabhängig für 19,99 bis 29,99 Euro zu haben. Es ist, tröstliche Botschaft am Ende der Wachstumsjahre, es ist noch genug für alle da.

Sinnlösung findet nicht statt

"Das deutsche Proletariat und das deutsche Kleinbürgertum lebt heute, 1960, in einem Zustand, der der Idiotie näher ist denn je zuvor", konstatierte Enzensberger grimmig. Vielleicht sind das P. und das K. heute nicht mehr ganz so idiotisch, aber einkaufen macht immer noch glücklich. Als marxistische Lehre hat der Materialismus ausgedient, hat sich aber als sinnstiftendes Friedensangebot durchsetzen können. Eine Warenkunde findet nicht statt, Wolfgang Fritz Haugs "Kritik der Warenästhetik" wird von törichten Redakteuren der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter die schlechtesten Bücher der edition suhrkamp gerechnet. Madonna besingt sich stellvertretend als "Material Girl", und bei Quelle findet sich die Bestätigung, dass die kleinbürgerliche Hölle an Ausstattungsreizen zuallerletzt spart. Ist die materialistische also doch verlässlicher als die ästhetische Sinnlösung?

Der Katalog gibt darauf keine Antwort, sondern hält sich an die normierende Kraft des Faktischen. Am Ideal der "eigenen vier Wände" wird schon gar nicht gerüttelt. In drei Wochen lieferbar ist die Leder-Polsterecke "Wohnstil". Sie sieht nicht bloß edel aus, sondern ist auch noch gemütlich: "Der echte Lederbezug und die besonders hochwertige Polsterung garantieren Ihnen ein Kuschel-Erlebnis der Extra-Klasse!" Wer will schon wissen, wie's drinnen aussieht, aber drunter ist alles eitel Kunstleder, Polyester und Schaumstoff, überzogen mit einer "Nutzschicht" aus "100 Prozent Polyvenylchlorid". Das hört man gern, obwohl es nicht unmittelbar der Wahrheitsfindung dient.

"Die Mehrheit, deren Wünsche und Vorstellungen der Katalog reflektiert, ist offensichtlich für den Fortschritt. Unter einer Bedingung: der historische Prozess", und man merkt, dass Hans Magnus Enzensberger seinen Karl Marx noch in strengster Observanz abprüft, "darf Fahrradklingeln und Hosenträger verändern, nicht jedoch das Bewusstsein." Der Bürger, ob klein, ob groß, hat in den vergangenen vier Jahrzehnten möglicherweise nicht zugewonnen an Bewusstsein, aber wenigstens keine Bedenken mehr, den Rasen zu betreten. Quelle empfiehlt die Begleitung des "UNIROPA professional Benzin-Rasenmähers 'Michael Schumacher'". Dessen "Tecumseh-Motor 2.3 kW (3,1 PS)" überzeugt ebenso wie das "robuste Stahlblechgehäuse", die "kugelgelagerten Leichtlaufräder" und der "ergonomisch geformte Führungsholm".

Angenehmes Fußklima

Und was ist daran schon auszusetzen? Leicht lässt sich diese Kleinbürgerhölle in Grund und Boden kritisieren, dabei ist an einem ",Clima Cool Striation' Trainings- und Freizeitschuh mit hochfunktionalem CLIMA-COOL-System" recht wenig zu entlarven. Der Verblendungszusammenhang der "Belüftungsschlitze am Schaft und der Außensohle", die immerhin "für einen perfekten Feuchtigkeitstransport sorgen", will sich nicht ohne weiteres erschließen, denn immerhin entsteht "dadurch ein angenehmes Fußklima".

In den Schrankwänden der Fa. Quelle lagern sogar noch weniger Bücher als 1960, aber schließlich will auch der Fernseher, der Stereoturm, die CD-Sammlung und das eine oder andere zierende oder sogar buchstützende vasen- oder kegelartige Objekt in der "Erle-/ oder Buche-Nachbildung" untergebracht sein. Das Stichwortverzeichnis verweist auf ganze drei Seiten (es sind zwei) mit Büchern, die außerdem nur ein sehr spezialisiertes Marktsegment ansprechen. "Vom Aschenputtel zur Sexgöttin" ist immerhin ein schönes Versprechen in der nach oben offenen Gesellschaft. Die "200 Stories" von "Best of Lesen Verboten" scheinen dem Leser den mäßig beleuchteten Weg zumindest in den juristisch heiklen, aber immerhin ansatzweise alphabetisierten Bereich zu weisen.

Damit wäre der Exkurs in die Kunst auch schon wieder zu Ende. Kunst kommt von Können, und Quelle kann enormes Kapital und einen gewaltigen Teil jener sechzig Prozent des Bruttosozialprodukts binden, das durch Konsum geschaffen wird. Als wertbeständige Anlage in diesen unsicheren Zeiten empfiehlt sich vielleicht ein weiteres Sonderangebot, der Mars Scooter. Hier drängt die sonst so nüchterne Prosa flott ins Offene: "Auch wenn's mit dem Gehen nicht mehr so klappt - dennoch möchte man unabhängig bleiben, sei's zum Einkaufen oder nur, um an die frische Luft zu kommen." Blau vom Blazer bis zu den Slippern sitzt eine ältere Mitbürgerin in ihrem "Mars Scooter" - "das Beste, was wir zu diesem Preis finden konnten!" - und erlebt die "max. Steigleistung von 12° (20%) bei einem zulässigen Gesamtgewicht von 242 kg." Ganz unten in der Beschreibung des guten Stücks ("Führerscheinfrei, keine Helmpflicht") kommt die gehschwache Dame auch noch vor, denn allzu schwer darf sie nicht daherreiten auf ihrem schnellen, steigungsstarken Scooter: "Zuladung 130 kg."

Gesamtwissen der Konsumgesellschaft

Ein Katalog ist ein Katalog ist die Enzyklopädie der Konsumgesellschaft. Was es im Katalog nicht gibt, gibt es nicht. Die Seniorin war natürlich nicht immer Seniorin, sie hat manches gesehen, aber doch nicht das, was die beiden folgenden Seiten der modernen Frau in Latex, Silikon und Metall bieten. "Diskretion Ehrensache" wird versprochen, aber in der großen Katalog-Familie sind wir doch unter uns und bestellen unter der Nummer 54 27 601 das "Luxus-Erotik Set 12tlg." Was das ist? "1 Vibrator mit 2 Aufsätzen incl. Batterien. 2 Silikon-Fingerlinge. 1 Paar Wonnekugeln. 3 Kondome extra feucht. 1 Penisring. 1 Augenmaske. 1 Lack-Laken 200 x 230 cm. 1 Erotik-Massage-Öl 100 ml." Nur was der "1 Slip 100% Baumwolle" dazwischen soll, will sich auch bei der hartnäckigsten Textkritik nicht erschließen.

Konsum ist, wie man früher gesagt hätte, Opium für das Volk. Aber Konsum ist gut, Konsum ist modern und neuerdings staatsbürgerliche Pflicht. Das fehlende Bewusstsein wird, wie noch immer, ersetzt durch reines Sein. Ich bestelle, ich kaufe, also bin ich. Obwohl, die stagflationäre Krise ist selbstverständlich auch bei Quelle angekommen: "Beim Kauf von Ang. 20 schenken wir Ihnen eine Flasche Champagner (0,75 l)!" Ang. 20 ist ein Anhänger mit Kette aus Gold 585. 20 Diamanten. Ketten-Länge ca. 45 cm und kostet jetzt statt 149,95 nur mehr 129,95 Euro. Champagner also und noch 20 Euro gespart!

Medien lenken den Konsum

Der Quelle-Katalog ist ein rührend eindeutiges Artefakt aus einer anderen Zeit, die unter Demokratie auch Konsumlenkung verstand. Auch diese Aufgabe hat die Exekutive inzwischen an die Unterhaltungsindustrie abgegeben. Eine normale "Wetten, dass . . .?"-Sendung, so das sie betreibende Doppel Gottschalk & Gottschalk, sei ohne heftigste Reklame für die Industrie gar nicht mehr zu machen. "Es geht nicht darum", erläutern sie freundlich, "dem Sponsor zu helfen, sondern ihn so einzubinden, dass alle mehr von der Sendung haben." Wahrscheinlich ist es das, was Marx mit dem Mehrwert meinte.

ANONYMUS: Quelle. Herbst/Winter 2003. Ohne Ort, ohne Jahr. 1454 Seiten, kostenlos.

© SZ vom 10.12.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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