Chronik des Falls Magnus Gäfgen:Ohne Beispiel

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Der Fall des Kindsmörders Magnus Gäfgen ist in der deutschen Rechtsgeschichte bisher ohne Beispiel. Erstmals mussten Gerichte über die Konsequenzen eines Verfassungsverstoßes durch Polizeibeamte entscheiden. Der Täter, der selbst ein Jurastudium absolviert hat, ist durch alle deutschen Gerichtsinstanzen gegangen und am Ende auch bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Eine Chronik.

27. September 2002: Der 27-jährige Jura-Student Magnus Gäfgen lockt den elfjährigen Jakob von Metzler, Sohn einer Frankfurter Bankiersfamilie, auf dem Heimweg von der Schule in Frankfurt-Sachsenhausen unter einem Vorwand in seine Wohnung und erstickt ihn dort mit Klebestreifen über Mund und Nase.

Sein Tatmotiv: Er war pleite, hatte aber seiner Freundin und den gut situierten Freunden vorgetäuscht, er arbeite bereits in einer Kanzlei, und wollte nicht als Lügner dastehen.

Mit dem toten Kind im Kofferraum fährt er zum Anwesen der Familie und legt dort einen Erpresserbrief ab mit der Forderung von einer Million Euro Lösegeld. Die Familie von Metzler schaltet die Polizei ein.

29. September: Gäfgen holt an der verabredeten Stelle das Geld ab.

Die Polizei beobachtet ihn dabei, hält sich aber zurück, um das Leben des Kindes nicht zu gefährden.

30. September: Die Polizei nimmt Gäfgen und seine 16-jährige Freundin am Frankfurter Flughafen fest. Gäfgen beschuldigt andere, das Verbrechen begangen zu haben und nennt falsche Verstecke.

1. Oktober: Der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner ordnet an, Gäfgen anzudrohen, dass er von einem Kampfsportler Schmerzen zugefügt bekäme; dadurch soll Gäfgen dazu gebracht werden, den wahren Aufenthaltsort des vermeintlich noch lebenden Kindes zu nennen.

Nach dieser Folterandrohung gibt Gäfgen zu, dass Jakob tot sein könnte und dass er sich an einem See nahe Schlüchtern im Main-Kinzig-Kreis befinde. Dort findet die Polizei die Kindesleiche.

23. Januar 2003: Der Aktenvermerk Daschners über die Gewaltandrohung vom 1. Oktober wird dem Verteidiger Hans Ulrich Endres bekannt.

17. Februar: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Daschner und einen Beamten wegen Verdachts der Aussage-Erpressung.

9. April: Der Prozess gegen Gäfgen beginnt. Das Frankfurter Landgericht erklärt wegen der verbotenen Gewaltandrohung der Polizei sämtliche bisherigen Aussagen Gäfgens für nicht verwertbar.

Der Vorsitzende Richter erklärt, die Androhung, dem Beschuldigen Schmerzen zuzufügen, sei ein Verfassungsverstoß. Daraus folge aber nicht, dass die Hauptverhandlung nicht zulässig sei.

11. April: Gäfgen legt ein umfassendes Geständnis ab.

27. Juli: Das Landgericht Frankfurt am Main verurteilt Gäfgen wegen Entführung und Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Richter stellen die besondere Schwere der Schuld fest.

20. Februar 2004: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Daschner und den Vernehmungsbeamten.

24. Mai: Das Urteil gegen Gäfgen wird rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof verwirft die Revision als unbegründet. Nach Auffassung der Verteidigung hätte das gesamte Verfahren eingestellt werden müssen, weil die Folterandrohung der Polizei gegen Gäfgen ein Prozesshindernis darstelle.

Die Richter des BGH sehen keine rechtliche Veranlassung, sich mit der Auswirkung der Folterandrohung auseinanderzusetzen, da der Angeklagte nach ausdrücklicher Belehrung über eine mögliche Unverwertbarkeit seines früheren Geständnisses in der Hauptverhandlung das Verbrechen gestanden hatte.

18. November: Der Angeklagte Daschner erklärt zu Prozessbeginn, er habe lediglich "unmittelbaren Zwang" angeordnet, der nach dem hessischen Polizeigesetz gedeckt sei.

20. Dezember: Das Frankfurter Landgericht spricht eine ,"Verwarnung mit Strafvorbehalt" aus - gegen Daschner wegen Anstiftung zur Nötigung und den Hauptkommissar wegen schwerer Nötigung.

Für den Fall eines Bewährungsverstoßes droht Daschner eine Geldstrafe von 10.800 Euro und dem Kriminalhauptkommissar eine Geldstrafe von 3600 Euro. Das Disziplinarverfahren gegen Daschner wird am 19. April 2005 vom Innenminister Volker Bouffier eingestellt. Daschner wird Leiter des Präsidiums für Technik, Logistik und Verwaltung (PTLV) der hessischen Polizei.

14. Dezember: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erklärt Gäfgens Verfassungsbeschwerde gegen seine Verurteilung für unzulässig. Es habe kein Verfahrenshindernis vorgelegen, weil das Frankfurter Landgericht unter der Gewaltandrohung gemachten Aussagen Gäfgens bei der Polizei bewusst nicht verwertet habe.

23. April 2007: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg nimmt die Beschwerde Gäfgens gegen die Bundesrepublik Deutschland einstimmig an und erklärt, es gebe Anhaltspunkte dafür, dass die deutschen Behörden gegen das Folterverbot und gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen hätten.

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