China:Wenn der Geist über dem Körper schwebt

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Als Baby sollte sie sterben, die Regierung versteckte sie beim Staatsbesuch: Die wundersame Geschichte von Chun Li, der Frau, deren Knochen wie aus Glas sind.

Von Kai Strittmatter

Die Leute von Yucun leben in einer Landschaft, die einem Traum entsprungen sein könnte, vielleicht sind sie deshalb ein so nüchterner Schlag. Ihre Vorfahren waren Fischer, und als ihr Dorf nach einem Namen verlangte, da tauften sie es "Fischerdorf", "Yucun" eben.

"Wenn ich nur lernen kann, habe ich vor gar nichts Angst" - Chun Li im Garten des Hotels "Mountain Retreat" in ihrer Heimastadt Yucun. (Foto: Foto: Kai Strittmatter)

Der US-Präsident spazierte ins Wohnzimmer

Chun Li kommt aus dem Fischerdorf, und sie war kaum geboren, da sagten die Verwandten schon, sie sei "anders". Chun Li sagt, sie habe immer Glück und treffe immer gute Menschen. Einmal spazierte der Präsident der USA in ihr Wohnzimmer. 1998 war das. Er war vom Schiff gestiegen mit seiner Frau und seiner Tochter, einem Schwarm von aufgeregten und wichtigen Beamten, und einem jungen Mann, den damals kaum einer bemerkte, der aber später wiederkommen sollte: wegen Chun Li.

Foto ohne Chun Li

Warum der Präsident der USA ausgerechnet das Fischerdorf besuchte? Weil nur ein ebenso großer wie verrückter Maler sich die bizarren Kegelberge ausgedacht haben kann, die das Dorf überragen, und es ein übermütiger Gott gewesen sein muss, der das Bild vollkommen machte, als er den träge mäandernden Fluss dazu gab. Der Präsident marschierte durch die Orangen- und Pomelo-Plantagen - längst waren aus den Fischern Bauern geworden - und durch die engen Gassen des alten Dorfes. Unerwartet machte er Halt vor einem kleinen Kiosk: Das war das Wohnzimmer von Chun Lis Familie. Es gibt ein Foto von dem Tag: Chun Lis Mutter, ihr Vater und ihr Bruder, stolz und verlegen neben dem mächtigen Mann, der ihnen vorgestellt wurde als "Herr Ke-lin-dun". Chun Li fehlt auf dem Bild.

Ein Glückstag mit Folgen

Chun Li findet, jener Tag sei ihr Glückstag gewesen. Und natürlich hat sie Recht. An jenem Tag begann ihr neues Leben, ihr Leben als Angel. Jene Frau, die eines Tages über den Ozean fliegen und einmal ein halbes Dutzend Angestellte herumkommandieren würde. Andererseits wusste Chun Li das alles damals noch gar nicht und fühlte sich so glücklich nicht in jenem Moment, als Bill Clinton in ihrem Wohnzimmer stand. Sie war nämlich zu Hause - aber sie saß alleine in ihrem Zimmer, oben im zweiten Stock, und hat den Präsidenten nie getroffen. Warum?

Ein paar Tage zuvor waren die Kader der lokalen Regierung im Dorf gewesen, liefen die Route ab, die sie für den Staatsgast ausgeheckt hatten, und kamen so an ihrem Haus vorbei. Chun Li saß im Türrahmen und strickte Wollpantoffeln für die Touristen, wie sie das immer tat: das Paar zu 20 Yuan (2 Euro), eine Woche Arbeit verlangte das ihren Händen ab.

Verstecken vor dem Präsidenten

Die Kader riefen die Mutter herbei und hielten ihr eine Predigt: "Du musst sie verstecken, wenn der Präsident kommt", verkündeten sie und deuteten auf Chun Li, die demonstrativ weiter strickte. "Was soll der sonst denken? Dass wir ein rückständiges Land sind, mit Menschen wie ihr?" Denk dran, mahnten sie gewichtig: "Das könnte unseren internationalen Beziehungen schaden!" Da war die Mutter ganz schön erschrocken. Gut, sagte Chun Li, geh ich halt in mein Zimmer.

Der Himmel wird sich schon drum kümmern

Menschen wie sie. Haben unbändige Lust aufs Leben. Seit dem Tag, an dem ihre Mutter sie zur Welt brachte. Winzig war sie. Brüllte unablässig. War seltsam geformt an manchen Stellen. "Anders." Der Onkel sagte das, als sie zehn Tage alt war: An dem Tag feiert man im Fischerdorf traditionell eine Geburt. Unglück sah er kommen, der Onkel, und er war nicht der einzige, und so empfahlen die Verwandten den Eltern, das kleine Bündel lieber sich selbst zu überlassen, der Himmel werde sich schon drum kümmern. Und so legten die Eltern Chun Li in eine Kammer und taten ein paar Tage lang so, als habe es sie nie gegeben.

Nur die Mutter, die schaute heimlich einige Male nach ihrer Tochter. Und Tage später bewegte die sich noch immer, obwohl sie nichts zu essen bekommen hatte, weinte. Was für eine Kraft. Hätte doch schon tot sein sollen. Wollte das offenbar nicht. Wollte in die Familie. Ins Dorf. Und darüber hinaus. Die Mutter hielt es nicht mehr aus, hob sie zu sich, und Chun Li lebte.

Älter, nur nicht größer

Die Jahre vergingen, Chun Li wurde älter, nur größer, das wurde sie kaum. Berührungen taten ihr weh, und sie lernte, dass jeder ungeschickte Fall die Knochen in ihrem zerbrechlichen Körper zerspringen lassen konnte. Chun Lis Vater pflanzt Pomelo, eine Art Riesen-Grapefruit mit fasrigem Fleisch und einer aromatischen Schale, mit der man in der Gegend auch kocht; die Mutter ist die Dorfärztin: Sie gehörte zu jenem Heer der Barfußärzte, denen die Partei einst das Wohlergehen der armen Bauern anvertraute, bewaffnet mit nicht viel mehr als den Worten des Großen Vorsitzenden Mao, etwas Seife und im Glücksfall einer Handvoll Antibiotika.

Ätherisches Öl gegen Knochenbruch

Wenn Chun Li sich einen Knochen brach, dann rieb die Mutter oft nur ätherisches Öl auf die Stelle, sie wusste es nicht besser. Mit dem Wort "Osteogenesis Imperfecta" hätte sie nichts anfangen können. "Glasknochen-Krankheit" nennt es der Volksmund bei uns. Das ist eine Gruppe von vererblichen Gebrechen, denen gemeinsam ist, dass der Körper bei der Produktion von Kollagen versagt. Kollagen wirkt wie ein Leim, der unsere Knochen stärkt.

Ohne Kollagen werden die Knochen brüchig und verformen sich. Heilen kann man die Krankheit nicht, wohl aber ihr zum Trotz ein erfülltes Leben führen: Jazz-Liebhaber erinnern sich vielleicht an den mittlerweile verstorbenen Pianisten Michel Petrucciani, der einst regelmäßig bei TV-Talkmaster Roger Willemsen auftrat.

Die verbotene Schule

Nun ist es noch einmal eine andere Sache, in ein armes chinesisches Bauerndorf hineingeboren zu werden, behindert und als Mädchen. "Was sollte ich machen?" Der Vater zuckt die Schultern. "Ich wusste, dass sie klug ist. Aber wir haben gerade mal ein Mu Land" - das sind nicht einmal 700 Quadratmeter - "mit etwas Glück verdienen wir 2000 Yuan (200 Euro) im Jahr. Und davon müssen wir vier und die Oma satt werden." Chun Lis Blick verdunkelt sich.

Sie kann noch immer richtig wütend auf den Vater werden. Er ließ sie nicht auf die Schule gehen: Die Bücher hätten Geld gekostet, meist verlangte der Lehrer auch einen Obulus, 100 Yuan (10 Euro) fürs Halbjahr. Des Vaters Rechnung war einfach: Warum das dringend benötigte Geld investieren in Chun Li, wenn klar war, dass sie eh nie arbeiten konnte. Zudem: ein Mädchen! Frauen verlassen in China traditionell bei der Heirat die eigene Familie, müssen sich dann um die Schwiegereltern kümmern. "Egal wie schlau eine ist", pflegte der Vater zu sagen, "am Schluss gehört sie doch jemand anderem." Doppelt hinausgeschmissenes Geld also.

Wissensdurst

Chun Li war 14, als sie zum ersten Mal in die fünf Minuten entfernte Schule ging, oder vielmehr: ritt, auf dem Rücken der Mutter, denn ihre Beine sind verkümmert. Die Mutter hatte alte Bücher besorgt und die Lehrer beschwatzt, aufs Schulgeld zu verzichten. Das Mädchen - doppelt so alt wie die meisten ihrer Klassenkameraden, aber nur halb so groß - saugte alles auf: Mathematik, Biologie und Chinesisch.

"Die anderen Kinder waren lieb", erzählt sie. "Manchmal haben die Größeren mich nach Hause getragen." Wenn sie an Prüfungen teilnahm, war Chun Li stets Klassenbeste oder Nummer Zwei. Oft war das jedoch nicht: Die Lehrer wechselten ständig, der neue verlangte wieder Geld, dann verbrachte Chun Li ihre Tage wieder auf der Schwelle ihres Heims und strickte Wollpantoffeln.

Da saß sie, als die Kader kamen, die ihr befahlen, sich vor dem Präsidenten der USA zu verstecken, und da saß sie noch immer, als ein junger Geschäftsmann aus der Entourage dieses Präsidenten Wochen später wiederkehrte, weil er seinen Eltern das malerische Fischerdorf zeigen wollte. Chris Barclay heißt der Mann.

Wie aus "Chun Li" "Angel" wurde

"Hallo!", sagte er zu Chun Li. "Wieso hab ich dich denn beim letzten Mal hier nicht gesehen?" Chun Li erzählte es ihm. Da wurde Chris Barclay erst einmal furchtbar wütend. Dann keimte in ihm ein Gedanke. "Sie war so ein helles Köpfchen", erinnert er sich. "Hatte von den Touristen ein wenig Englisch aufgeschnappt, plapperte wie ein Wasserfall. Ich sah sie und dachte: "Was für eine Verschwendung!"

Es traf sich, dass Barclay gerade plante, im nahe gelegenen Yangshuo ein kleines Hotel zu bauen. Als erstes verschaffte er Chun Li eine Englisch-Lehrerin. Dann fuhr er zurück nach Kanton, sammelte Spenden - und Monate später saßen Chun Li und ihre Mutter im Flugzeug nach Los Angeles. Dort untersuchten sie die besten Ärzte, richteten ihr die Zähne und operierten ihr rechtes, fast blindes Auge, und als sie auf dem Rückweg nach China war, da hatte sie nicht nur Disneyworld und das erste Footballspiel ihres Lebens gesehen, sondern auch einen englischen Namen bekommen: Angel. Und zu Hause in China wartete ein Job auf sie.

"Nervig, das doofe Rechnen"

Wer heute die Lobby des "Mountain Retreat" betritt, hört Chun Li meist, bevor er sie sieht. "Hallo!", kräht es da fröhlich durch den Raum: "I'm Angel!" Dann, wenn die Augen sich an das schummrige Licht gewöhnt haben, sieht man ihren Kopf hervorlugen: Sie thront auf der Schreibfläche der Rezeption, neben sich Telefon und Taschenrechner, dort füllt sie die Anmeldungen aus, von dort dirigiert sie das Personal. Längst ist Angel nicht mehr nur Rezeptionistin: Sie organisiert die Grill-Abende und Floßfahrten der Tourgruppen, ihr untersteht die ganze Finanzbuchhaltung. "Nervig, das doofe Rechnen", seufzt sie. Mittlerweile unterhält sie sich auch am Telefon fließend auf Englisch, surft im Internet.

Einmal schnappte sie sich einen Fahrer, um in die zwei Stunden entfernte Kreisstadt zu fahren und einem bei ihr mit 5000 Yuan in der Kreide stehenden Reisebüro den Marsch zu blasen. "Hey Ihr!", brüllte sie uns am Abend aus dem offenen Fenster des heimkehrenden Wagens aufgeregt zu: "Mission erledigt!"

"Allen eine Lektion erteilt"

Später sagt sie: "Ich habe gar nicht gewusst, was ich alles kann." Selbst die chinesische Geschäftspartnerin von Chris Barclay, die sie hier nur "Lehrerin Chen" nennen, zollt ihr mittlerweile Respekt: "Am Anfang habe ich zu Chris gesagt: Du bist verrückt! Chun Li aber hat uns allen eine Lektion erteilt." - China sei eben noch ein armes und rückständiges Land erklärt Chen, und die Einstellung der meisten Chinesen zu Behinderten sei geprägt von dem Gedanken: "Ich kann ja noch nicht einmal für mich selbst sorgen - warum sollte ich mich dann um dich kümmern?"

Zum ersten Mal nahm eine chinesische Universität im Januar diesen Jahres eine blinde Studentin auf - die Zeitungen berichteten groß, denn körperlich Behinderte, egal wie intelligent, waren bislang vom Studium ausgeschlossen. Manche Gäste erschrecken, wenn sie Chun Li sehen. Andere laden sie zu Ausflügen ein, lassen sich von ihr das Fischerdorf zeigen.

Das Ende der Schmerzen

Ganz ohne Hilfe kommt sie natürlich nicht aus. Die Mutter hat als Putzfrau angeheuert im Hotel, schultert ihre Tochter auf Zuruf, trägt sie von Raum zu Raum, und, wenn es an freien Tagen nach Hause geht, durch die Straßen, zum Bus, aufs Boot. Chun Li verliert gerne Zimmerschlüssel. Manchmal, sagt Chris Barcly, sei sie noch wie ein Kind.

Und trotzdem. Die zweite Rezeptionistin hat eine Hotelfachschule besucht. "Chun Li ist besser", findet der Chef: "Sie ist schnell. Sie traut sich was." Kürzlich hat sie Lehrerin Chen entgegnet: Ihr Chefs, Ihr reißt ja nur den Mund auf, arbeiten tun andere. "Gott, hat die sich grün und blau geärgert!", gluckst sie.

Chun Li nimmt Tabletten, seither haben Knochen und Muskeln zugelegt: 30Kilogramm wiegt sie, ein Viertel mehr als zuvor. "Und mir tut jetzt nichts mehr weh", sagt sie: "Nicht mal, wenn sich das Wetter ändert." Den Karton mit den Pillen im Wert von 50000 Yuan hat sie in den USA geschenkt bekommen. Stell dir vor, sagt der Vater: Davon könnte unsere Familie 20 Jahre lang essen. Stell dir vor, sagt Chris Barclay: Sie kann nun eine große Tasse voller Tee selbst heben. Stell dir vor, sagt die Mutter: Sie bezahlt nun ihrem kleinen Bruder das Gymnasium.

Wie ist das neue Leben, Angel? "Ooch..." Chun Li macht ein Gesicht als wüsste sie da schon noch etwas. "Arbeiten ist gut", platzt sie schließlich heraus - "aber Lernen ist besser!" Es scheint, als werde sich auch dieser Traum erfüllen, nun, da sie 21 Jahre alt ist. Chris Barclay sieht sich nach Sponsoren und nach einer Schule für sie um, in den USA. In China hätte sie kaum Chancen: Auch in Behindertenschulen müssen die Schüler hier selbst Treppensteigen können. Und sie kann doch nicht immer die Mutter mitnehmen. Ganz alleine nach Amerika? "Wenn ich nur lernen kann", sagt sie bestimmt, "habe ich vor gar nichts Angst!"

© SZ vom 30.03.04 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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