Briefe aus Bergen-Belsen:"Wie Vieh"

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Mirjam Bolle schrieb im Konzentrationslager drei Notizbücher an ihren Verlobten voll. Mehr als 60 Jahre später hat sie die Texte veröffentlicht.

Birgit Taffertshofer

Mirjam Bolle wollte nie wieder deutschen Boden betreten. Als der Verlag ihr am Telefon von der geplanten Lesung in Berlin berichtete, habe sich alles in ihr gegen diese Zumutung gesträubt, sagt die 89-jährige Frau aus Jerusalem. Trotzdem ist sie ins Land ihrer Peiniger zurückgekehrt - um ihr Buch zu präsentieren.

Wenn sie nach ihren Gefühlen gefragt wird, pflegt die Autorin auszuweichen. Sie sei ja nur eine einfache Sekretärin, die ein Schicksal hatte, wie viele andere Juden. Dieses Schicksal schließt jedoch die Entwürdigung durch die Deutschen mit ein. Und davon berichtet das Tagebuch, über dessen Existenz Mirjam Bolle fast 60 Jahre lang schwieg.

Mirjam Bolle, geborene Levie, hat den Holocaust überlebt. Als die 27-Jährige am 30. Juni 1944 in einem Zugtransport das Konzentrationslager Bergen-Belsen verließ, schmuggelte sie ein Bündel Papier mit in die Freiheit. Es waren Briefe an ihren Verlobten Leo.

Drei kleine Schreibhefte, eng bekritzelt, mit den Erfahrungen einer jungen Frau, die die Judenverfolgung in Amsterdam und die Deportation nach Westerbork und Bergen-Belsen überlebt hatte. Im Austausch gegen internierte deutsche Reichsbürger entkam sie mit 221 weiteren Häftlingen dem Tod. Das Tagebuch in Briefform erreichte Mirjam Bolles Verlobten nie - obwohl er sechs Wochen später in Palästina ihr Ehemann wurde.

Die alte Dame verharrt einen Moment auf der Türschwelle, als sie den voll besetzten Saal im Anne-Frank-Zentrum in Berlin betritt. Aufrecht steht sie da, mit etwas Rouge und Lippenstift zurechtgemacht mustert sie ihr Publikum. Nein, anklagen will sie nicht. Die Kinder seien nicht verantwortlich, für das, was ihre Eltern verbrochen haben, betont sie. Und doch hoffe sie, dass ihr Buch gelesen werde. Denn ihr Schicksal sei auch ein Teil deutscher Geschichte.

"Es ist verrückt, wie schnell ein Mensch vergisst", notierte Mirjam Levie im Konzentrationslager nahe der Stadt Celle, "in W'bork haben alle geflucht und sich nach A'dam zurückgesehnt (Westerbork und Amsterdam, d. Red.). Hier flucht jeder über Celle und spricht über W'bork, als wäre es ein Eldorado gewesen. Und niemand spricht mehr von A'dam. Hoffentlich wird es uns nie so schlecht gehen, dass wir uns nach Celle sehnen."

Der niederländische Historiker Johannes Houwink ten Cate erkannte sofort den historischen Wert der Aufzeichnungen. Denn im Unterschied zu vielen anderen Berichten über den Holocaust entstanden sie nicht aus der Erinnerung, die die Realität manchmal verfälscht.

Schikanen, Apellstehen, Hoffnung

Sondern die Briefe liefern ein authentisches Bild einer Zeit, die selbst der Autorin im Nachhinein unglaublich erscheint. Als ob sie sich festhalten wolle, klammert sich Mirjam Bolle an den Henkel der Handtasche zu ihren Füßen, während Schauspielerin Martina Gedeck in Berlin aus ihrem Buch liest.

Im Januar 1943 begann Mirjam Levie ihre Erlebnisse für den Geliebten aufzuschreiben, der vor dem Krieg nach Palästina ausgereist war. Sie erzählt über die Besatzung in Amsterdam und wie sich die Schlinge um die holländischen Juden zuzog. Legt Zeugnis ab über ihre Arbeit als Sekretärin beim umstrittenen Jüdischen Rat, der angetreten war, um das Leben der Mitbürger zu schützen und immer mehr zum Handlanger der Nazis wurde. Führt Buch über die Schikanen der KZ-Aufseher, das stundenlange Appellstehen bei Regen und Schnee, die Hoffnung auf einen Austausch.

In Mirjam Levies Tagebuch gibt es keine historischen Exkurse und Reflexionen. Es gibt keine stilistischen Kunstfertigkeiten. Sie schreibt, als spräche sie mit ihrem Geliebten. "Ich konnte einfach nicht anders, als kurz mit dir zu sprechen, auch wenn ich weiß, dass ich das eigentlich nicht tun sollte. Heute morgen war doch um sieben Uhr Appell, wieder die ganz normale Auswahl für die Einteilung in die jeweiligen Kommandos. Einer der Grünen hat eine starke Taschenlampe. Damit leuchtet er einem nach dem anderen ins Gesicht und wählt aus. Wie Vieh."

Die Momentaufnahmen werden zum Stenogramm einer kollektiven Verwahrlosung, dergegenüber das Schreiben als einzige Möglichkeit der Selbstvergewisserung erscheint. Heimlich, meist nachts zusammengekauert unter einer Decke, schreibt die Inhaftierte in die eingeschmuggelten Hefte. Selbst ihre Schwester Bobby und ihre Mutter wissen nichts von den verbotenen Tagebucheinträgen.

Der Ehemann ihre Briefe nie gelesen

Mirjam Bolle verstand die Briefe stets als geistiges Eigentum ihres Ehemannes. Aber dem, was sie ihm nach der Befreiung berichtete, stand er innerlich fern. "Wir haben darüber geredet, am Anfang", erzählt sie. Bald senkte sich jedoch ein Vorhang des Schweigens über die Vergangenheit. Denn der Geliebte, der sechseinhalb Jahre lang ihr einziger Hoffnungsschimmer war, konnte das Geschehene nicht begreifen. Bis zu seinem Tod hat Leo Bolle die Briefe nicht gelesen.

Das tut weh, aber auch sie selbst wollte den Schrecken ausblenden und nach vorne blicken, erklärt Mirjam Bolle. Das Päckchen Papier landete ungelesen im Schrank. Erst als ihre Schwester vor wenigen Jahren vor Schülern über den Holocaust sprach, kamen ihr die Briefe wieder in den Sinn. Einen Teil schickte sie Houwink ten Cate.

Zwei Kinder starben durch Nahost-Konflikt

Nach Berlin reiste die 89-Jährige mit ihm und ihrer Tochter Rinna, das einzige von drei Kindern, das ihr geblieben ist. Ihr Sohn wurde 1967 als Pilot im Sechstagekrieg abgeschossen. Drei Jahre später fuhr ihre jüngste Tochter, die auf den Golanhöhen an der Grenze zu Syrien stationiert war, in einem Jeep über eine Landmine.

Über all das will Mirjam Bolle bei der Lesung im Anne-Frank-Zentrum nicht sprechen. Sie habe sich wohl gefühlt in Berlin, sagt sie zum Abschluss. "Die Verhältnisse in Deutschland waren damals wirklich anders, um es euphemistisch auszudrücken."

Mirjam Bolle: "Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen". Deutsch von Stefan Häring und Verena Kiefer. Eichborn Verlag, Berlin. 298 S., 22,90 Euro.

© SZ vom 30.03.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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