Briefbomben-Serie:Das Geheimnis von Hutthurm

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In Niederbayern rätseln Landräte, Abgeordnete und Bürgermeister, warum sie immer häufiger zum Ziel blinder Wut werden. Nach der Serie von Briefbomben greift die Polizei nun zum letzten Mittel: dem DNS-Test. Eine Reportage.

Von Annette Ramelsberger

Als Eduard Bosch den Brief in der Hand hielt, hatte er eigentlich nur eine Angst - sich gründlich zu blamieren. Sollte er wirklich die Polizei anrufen, nur weil da schwarzes Pulver aus dem Umschlag rieselte? Sollte er wirklich glauben, dass da eine Briefbombe lag, hier im friedlichen Passau, im Vorzimmer des Landrats, im Schatten des Doms? Sollte er sich auslachen lassen? "Am Schluss stellen die fest, dass uns jemand Niespulver geschickt hat", dachte Bosch. Er zögerte. Dann rief er doch die Polizei.

Briefe, in denen sich Bomben befanden. Wer ist der Absender? Warum ist er so wütend? (Foto: Foto: ddp)

Eduard Bosch ist ein gestandener Niederbayer, 58 Jahre alt, im Landratsamt arbeitet er, seitdem er überhaupt denken kann - seit 41 Jahren. Ein Mann, der Chorleitern zu Orden verhilft, Feuerwehren zum Zuschuss fürs neue Gerätehaus und der Bürgermeistern die aktuelle Förderrichtlinie der bayerischen Staatsregierung erklärt. Mit Briefbombern aber hatte Eduard Bosch bisher nichts zu tun.

Kurz nach seinem Anruf bei der Polizei rückte das Sprengkommando aus dem 200 Kilometer entfernten München an und nahm den Briefumschlag mit. Eduard Bosch fuhr nach Hause und dachte noch stundenlang, dass sich da wohl einer einen Spaß erlaubt habe und er deshalb bald furchtbar dumm am Stammtisch angeredet werden würde.

Aber es war kein Spaß: Im Vorzimmer des Landrats war eine Briefbombe angekommen. Funktionsfähig und scharf. Unbegreiflich. Unverständlich. Keiner konnte sich einen Reim drauf machen.

Briefbomber mit vielen Anhängern

Der Schock setzte viel später ein. Der Schock kam, als die Anrufe eingingen. Als die Dame anrief und sich beschwerte, warum sie eine Fremdenverkehrsabgabe zahlen sollte, wo sie doch gar nichts am Fremdenverkehr verdiene. Und gleich dazu setzte: "Da muss man doch Verständnis haben für einen, der euch eine Bombe schickt." Es geschehe ihnen da drinnen im Amt ganz Recht.

Einer, dem der Zuschuss für den sozialen Wohnungsbau nicht gewährt wurde, rief an und sagte: "Ich versteh" den schon, der euch die Bombe geschickt hat. Euch gehört mal richtig eingeheizt."

Einer rief an, dem der Führerschein entzogen worden war und der ihn endlich zurückhaben wollte: "Wenn das jetzt nicht schneller geht, dann schick ich auch mal eine Bombe. Geschadet hätt' euch das nicht."

Nicht die Bombe hat Eduard Bosch ins Mark getroffen, sondern die Anrufe danach. Anrufe, die nur eins bedeuten können: Der Briefbomber von Passau hat viele heimliche Anhänger.

Es war der 6. April 2004, an dem im Landratsamt Passau die erste Bombe ankam. Eine Woche später ging eine an den Oberbürgermeister von Passau. Zwei Monate später fand sich eine in der Post der Deggendorfer Bundestagsabgeordneten Bruni Irber. Dann traf es den Landrat von Dingolfing.

Immer wurden die Briefbomben entdeckt, bevor sie explodierten. Dann, am 30. August, ging eine der Bomben hoch - im Vorzimmer des Landrats von Regen. Es tat einen Knall, dann stürzte Waltraud Rothkopf, die Sekretärin, ins Zimmer des Landrats.

"Herr Landrat, jetzt haben wir auch eine Briefbombe." Ihr Pony war versengt. Auf dem Schreibtisch flogen noch die brennenden Teile des Briefes herum. Der Landrat stürzte in die Teeküche, holte einen Lappen und löschte die Flammen.

Zeitgleich ging beim Oberbürgermeister von Straubing ein Sprengsatz ein. Dann weitete der Täter seinen Wirkungskreis aus: Er schickte seine explosiven Briefe an den polnischen Generalkonsul in München, an den Präsidenten der Oberfinanzdirektion in München und an den unterfränkischen Regierungspräsidenten in Würzburg.

Neun Attentate hat der Täter bis zum heutigen Tag versucht. Es ist die längste Serie von Briefbombenanschlägen, die die Bundesrepublik bisher gesehen hat.

Immer sollten die Bomben von Niederbayern Politiker treffen. Aber nie hat der Täter sein Motiv enthüllt. Einmal war ein Ausschnitt aus einer alten Zeitung dabei, in der über angebliche Wahllügen von Bundeskanzler Gerhard Schröder berichtet wurde.

Aber was hat der SPD-Kanzler mit dem CSU-Landrat von Passau zu tun? Was der polnische Generalkonsul mit dem Präsidenten der Oberfinanzdirektion? "Was habe ich mit dem OB von Straubing oder mit dem Landrat von Regen zu tun?", fragt Bruni Irber, die Bundestagsabgeordnete, die sich für den Tourismus im Land einsetzt. Was kann daran Böses sein?

"Der Täter ist nicht dem Gesetz der Logik unterworfen", sagt Oberstaatsanwalt Wolfgang Neuefeind in Passau. Er bedrohe Leute von der CSU und der SPD, vom Bund und vom Landkreis. Verschiedene politische Ebenen, völlig andere Aufgaben, von unterschiedlichen Parteien.

Niederbayerisches Sprichwort

Völlig unlogisch - auf den ersten Blick. Aber es gibt da ein Sprichwort in Niederbayern, das ein Quäntchen Logik in die Sache bringen könnte. Das Sprichwort lautet: "Wenn du alle in einen Sack hinein steckst und dann drauf haust: Es trifft keinen Falschen." Übersetzt heißt das: Sie haben alle Schläge verdient, der eine weniger, der andere mehr. Rücksicht bringt da nichts.

Es könnte dieses Sprichwort sein, das dem Denken des niederbayerischen Briefbombers doch recht nahe kommt.

Kriminalhauptkommissar Jürgen Gust stapft durch den Schnee, der hier im Bayerischen Wald schon knöchelhoch liegt. Er geht von Haustür zu Haustür. Seit mehr als drei Monaten ist er vom Landeskriminalamt in München abkommandiert.

Er soll zuhören. Er soll aufschnappen, wenn einer - gar nicht zur Polizei, sondern nur so am Stammtisch - sagt: "Dem Huber oder dem Meier würd' ich das zutrauen."

Der Mann hört viel. Eines hört er immer wieder: Das sei doch alles aufgebauscht, es treffe ja doch nur Politiker. Das klingt manchmal so, als wäre die Anschlagserie deswegen gar nicht so richtig schlimm.

"Da könnt' ja jeder kommen"

An diesem Abend sitzt Kommissar Gust im Gasthaus Wagner in Hutthurm. Einem Ort von 5923 Einwohnern, auf den ersten Höhenzügen des Bayerischen Waldes gelegen.

Der Stammtisch steht am Kachelofen. In der Ecke ist schon der Adventskranz gerichtet, in der Vitrine leuchten die Pokale des FC Goldener Steig. Es ist ein gutbürgerlicher Stammtisch hier: Der örtliche Braumeister kommt gern, der Uhrmacher, auch der Bürgermeister. Und neuerdings "der Kriminaler". So nennen sie hier Kommissar Gust. Er gehört mittlerweile zur Stammbesetzung.

Deswegen nimmt auch keiner mehr ein Blatt vor den Mund. "Geh weiter", sagt einer. "Das sind doch gar keine richtigen Bomben. Kinderspielzeug. Kriegst höchstens schwarze Fingernägel davon." - "Schadet doch gar net, denen da oben mal ein bisschen Angst zu machen", sagt ein anderer.

Kommissar Gust hat sein Weißbierglas vor sich aufgebaut, über den Schaum hinweg schaut er in die Runde und sagt: "Und was ist, wenn deine Tochter im Landratsamt arbeitet? Wenn die noch nicht verheiratet ist und ihr die Stichflamme das G'sicht verbrennt? Die hast du dann zuhause sitzen. Die wird nicht mehr g'heirat, mit einem verbrannten Gesicht." - "Ja, freilich", murmelt der Mann gegenüber. "Wenn man des so sieht."

"Meiner ist schon am Samstag dran"

Ein paar Häuser weiter, im Schreibwarenladen der Anneliese Haller, fragt die Kundin im grünen Lodenmantel: "Hat Ihr Mann auch schon die Einladung gekriegt für Sonntag?" - "Nein, meiner ist schon am Samstag dran." - "Wissen'S, dass sogar der alte Herr Pfarrer zum Speicheltest muss? Als wenn der jemals wo einbrechen würd'."

Die Frauen reden über eine der größten Massenuntersuchungen des Erbguts, die es bisher in Deutschland gegeben hat. Bis zum Sonntag sollen an die 4000 Männer aus Hutthurm und Umgebung eine Speichelprobe abgeben. Damit will man den Briefbomber nun endlich enttarnen.

Die Polizei setzt darauf, dass der Täter in der Nähe der Marktgemeinde Hutthurm leben muss. Vor zwei Jahren wurde hier mehrmals in abgelegene Gehöfte eingebrochen, die nur ein Einheimischer kennen konnte.

Bei einem Einbruch hatte sich der Täter verletzt und seine blutigen Handschuhe liegen lassen. Der genetische Fingerabdruck auf den Handschuhen ist der gleiche wie auf den wenigen Hautzellen, die auf den Briefbomben gefunden wurden. So kennt man jetzt zwar den genetischen Fingerabdruck des Täters, den Täter aber noch immer nicht. Und deshalb sollen von diesem Freitag an alle Hutthurmer Männer zwischen 17 und 70 zum Speicheltest antreten.

"Nix da, ich geh nicht hin. Die sollen mich vorladen, wenn sie was von mir wollen." Der Sammer Max ist Erster Kommandant der Feuerwehr von Großthannensteig, dem nächsten Ort hinter Hutthurm. Ein gerades Mannsbild, mit jenem Hang zum Widerspruch, den man den Niederbayern nachsagt.

"Meinst' etwa, ich geh hin, nur weil der Bürgermeister es vorg'macht hat?" Nicht, dass sich der Sammer Max fürchten müsste. Ihm geht es ums Prinzip. Da könnt' ja jeder kommen, und nächste Woche vielleicht gleich wieder. Und wer glaubt schon, dass die ganzen Genproben danach vernichtet werden - bei dem vielen Geld, das der Test kostet?

"Wir glauben alle nicht mehr ans Christkindl", sagt Ludwig Färber, auch er ein Feuerwehrkommandant, nur er von Hötzdorf. Trotzdem gehen sie fast alle hin.

"Dafür haben sie kein Geld"

Lauter aufrechte Feuerwehrmänner haben sich an diesem Abend im Feuerwehrhaus von Leoprechting bei Hutthurm getroffen. Eigentlich geht es um ein neues Notstromaggregat und um bessere Gummistiefel und feuerfeste Unterziehhauben. Und dass man sich die lieber selber besorgt, als sie über den teuren Feuerwehrkatalog zu bestellen. Das spare Geld. Aber später geht es dann halt doch darum, wer seinen Speichel beim Massentest abgibt.

Auf 25.000 Euro hat die Polizei die Belohnung inzwischen erhöht, bei vielen Mordtaten sind es nur 5000 Euro. An die 50 Mann arbeiten in der Sonderkommission, 40 Euro kostet jeder DNS-Test. Allein das summiert sich auf 160.000 Euro.

"Für eine Straßenkreuzung, wo jedes Jahr x Menschen umkommen und die man entschärfen könnte - dafür haben sie kein Geld", sagt Feuerwehrmann Färber. "Und für den Test geben sie es aus." Ein junger Feuerwehrmann wirft ein: "Es kommt halt immer drauf an, wen es trifft."

Da ist sie wieder: diese tief verwurzelte Überzeugung, dass Politiker nur dann reagieren, wenn es sie selber trifft. Dass ihnen der kleine Mann eigentlich egal ist. Das denken sogar die Stützen der Gesellschaft: Feuerwehrleute, Ehrenamtliche.

Alle sind sie hier der Meinung, dass der DNS-Test eine große Verschwendung ist. Es war niemand aus Hutthurm, da sind sie sich sicher. Und der Nader Sepp aus Leoprechting sagt: "Bei uns stiehlt niemand was und wenn, dann weiß man, wer's g'wesen ist." Aber auch der Nader Sepp weiß nicht, wer die Briefbomben schickt.

Man streitet eigentlich direkt

Zumindest haben die Feuerwehrleute in einem Recht: Die Briefbombenserie ist zutiefst untypisch für den Stil der Auseinandersetzung, wie sie der Niederbayer pflegt. Wenn man sich hier streitet, dann direkt. Da schickt man dem Nachbarn nicht die Polizei auf den Hals, wenn man sich ärgert. Man regelt das selbst. "Das wird hier von Mann zu Mann ausgetragen", sagt der Pfarrer.

Dem Hutthurmer Alt-Bürgermeister Baumann hat ein Bürger, der sich um seine Kriegsrente gebracht sah, den Hagelstecken über den Kopf gezogen. Der Bürgermeister konnte zwar nichts dafür, aber er musste halt herhalten - als Vertreter der Obrigkeit. Den Sohn des Bürgermeisters hat das nicht abgehalten: Auch er wurde Kommunalpolitiker.

Seit 1998 ist Hermann Baumann Bürgermeister in Hutthurm, mit 68 Prozent wurde er gerade wieder gewählt. Baumann ist einer, zu dem sie "der Herrmann" sagen, und nicht "der Herr Bürgermeister". Die alten Leute freuen sich, wenn er sie besucht, die Jungen grüßen ihn freundlich auf der Straße.

Er sagt: "Ich bin gern Bürgermeister, ich liebe meine Heimat. Nirgendwo kann man mehr für seinen Ort tun als als Bürgermeister." Und dennoch - in der Logik des Briefbombers wäre auch er ein Vertreter von "denen da oben".

Blut auf dem Parkett

30 Kilometer weiter, in der Gemeinde Aldersbach, empfängt Bürgermeister Franz Schwarz. Früher konnte man vom Gang des Rathauses einfach in sein Zimmer gehen. Jetzt ist dort abgeschlossen. Man muss nun durch sein Vorzimmer.

Franz Schwarz ist am Rosenmontag von einem Bauern niedergestochen worden. Hier, mitten in seinem Amtszimmer. Er hat Bilder davon in einem Aktenordner gesammelt. Viel Blut schwimmt da auf dem Parkett, sein Blut. Und man sieht den Attentäter, einen alten, drahtigen Mann, dem Schwarz das Messer im letzten Augenblick aus der Hand schlagen konnte.

Der Anlass? Ein Streit zwischen zwei Nachbarn um einen Pfosten an der Grundstücksgrenze. Was der Bürgermeister damit zu tun hatte? Nichts. Aber es musste doch einer schuld sein. "Dich bring ich um", rief der Täter noch, als längst die Polizei da war.

Drei Tage tat der Bürgermeister so, als wenn ihn das alles nicht wirklich getroffen hätte. Dann brach er zusammen. Er, das starke Mannsbild, weinte. "Was habe ich denn verbrochen?", grübelte er. Dann schrieb er sein Testament, haarklein. Jetzt hat er alles geregelt. Der nächste Angriff würde ihn nicht unvorbereitet treffen. Am Tag darauf ging er wieder ins Rathaus.

"Sind wir wirklich solche Unmenschen, dass uns jemand eine Bombe schickt?", fragt sich Eduard Bosch in Passau. "Ist es das Ganze eigentlich wert, sich so zu gefährden?", fragt sich auch Franz Schwarz.

Schon haben sie im Landratsamt besprochen, wie man sich verhält, wenn die ersten Bürger wegen Hartz IV kein Arbeitslosengeld mehr bekommen. "Da kann man sich schon vorstellen, dass einer Blödsinn macht", sagt Schwarz.

Vom Volk missachtet

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Bruni Irber hatte gleich gedacht, der Anschlag gegen sie käme womöglich deswegen, weil sie bekennende "Schröderianerin" ist. "Ich trage die Reformen mit, die ganze Agenda 2010", sagt sie. "Klar denkt man da nach." Schon lange vor dem Anschlag habe sie hasserfüllte Briefe bekommen, "richtig gscherte", was auf gut bayerisch heißt: unanständige, mit heftigen persönlichen Angriffen darin.

Das einfachste Angriffsziel sind eben die Politiker. Leute, die eigentlich das Volk vertreten sollen, die ständig unter Leuten sind, die aber vom Volk zunehmend missachtet werden. Von denen die meisten Bürger nicht wissen, wer für was zuständig ist, wer was beeinflussen kann. Überhaupt, wie das alles funktioniert zwischen Berlin, München und den kleinen Leuten ganz unten. Und dann ist es doch viel einfacher zu sagen: "Steck alle in einen Sack und hau drauf - es trifft keinen Falschen."

Im Landratsamt Regen im Bayerischen Wald sitzt wie jeden Tag Waltraud Rothkopf, 46, die Vorzimmerdame des Landrats. Schon am Tag nach dem Anschlag ist sie wieder zur Arbeit gegangen. Äußerlich ist nichts mehr zu sehen, der versengte Pony ist nachgewachsen.

Und innerlich? Darüber redet Waldtraud Rothkopf nicht. Psychologen habe sie auf jeden Fall nicht gebraucht, sagt sie nur. "Die reden einem nur mehr Probleme ein, als man schon hat." Es geht schon wieder, sagt sie. Dann wandert ihr Blick vom Computer weg, durchs Fenster, über die Hügelkette hinter Regen. Und leise sagt sie: "Lieber wär's mir schon, sie würden ihn kriegen."

© SZ vom 25.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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