Bildung:Träumen und Trödeln

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Vergeuden Kinder ihre Zeit bis zum Schulanfang mit Spielen?

Sie gelten als überbehütet und unterfordert. Statt sich zu bilden, vertrödeln Kindergartenkinder ihre Zeit in Puppenecken und Sandkästen. Das soll sich ändern. Mit Bildungsvereinbarungen, Beurteilungsbögen und Qualitätsstandards will die Politik mehr Schwung in die frühkindliche Bildung bringen. Gerd Schäfer erinnert diese Politik an einen Rennwagen-Hersteller, der das Abschneiden seiner Fahrer verbessern will, indem er die Messtechnik am Ziel neu einstellt und mehr Druck auf seine Fahrer ausübt. "Dadurch erfährt er nur, dass seine Autos eigentlich besser sein müssten", sagt der Pädagogik-Professor an der Universität Köln. In den Kindergärten wird beobachtet, gemessen und standardisiert - aber mehr kosten darf die Bildung nicht.

Frühkindliche Bildung im Kindergarten - pro oder contra? (Foto: Foto: Photodisc)

"Da streut die Politik den Eltern viel Sand in die Augen", sagt Schäfer. Und sie verschenke ein großes Potenzial. Schließlich lernt der Mensch nie wieder so schnell so viel wie in den ersten Jahren. Im Handumdrehen beherrscht er seine Muttersprache, locker schwingt er sich von allen Vieren zum aufrechten Gang und entdeckt nebenbei noch Hebelwirkung oder Schwerkraft. "Durch Neugier erarbeiten sich Kinder ihr Wissen selbst." Dazu brauchen sie eine Welt, die sie erforschen können, und Erwachsene, die ihre Logik verstehen und erkennen, wann sie welche Anregungen brauchen.

Doch Kindergärten sind in Deutschland weit davon entfernt, im Bildungssystem die erste Stufe zu bilden. Schließlich herrscht hierzulande noch immer die Meinung, dass kleine Kinder am besten in der Obhut ihrer Mütter gedeihen. "Das ist eine ganz miserable Voraussetzung für Bildung im Kindergarten", sagt Schäfer. Deutsche Kinder besuchen eine Tageseinrichtung nicht, weil sie sich dort besser entwickeln können, sondern weil ihre Mütter berufstätig sind.

Wer keine Betreuung braucht, spart sich häufig zumindest den Ganztagsplatz. Schon allein aus Kostengründen. Entsprechend schlecht sind die meisten Einrichtungen für die Bildungsaufgabe ausgestattet, findet Barbara Schmitt-Wenkebach, Studiendirektorin an der Fachschule für Sozialpädagogik in Berlin, die Erzieher ausbildet. In den meisten Bundesländern seien die Gruppen viel zu groß. Zum Teil müssten eine Erzieherin und eine Kinderpflegerin mehr als 20 Kinder betreuen. "In solchen Gruppen sind die Erzieherinnen für die Kinder gar nicht erreichbar."

Von Vorbereitungszeiten, wie sie Lehrer haben, können Erzieherinnen nur träumen. Zwar sollen sie einen Teil ihrer Arbeitszeit zur Vorbereitung nutzen, aber diese Stunden werden oft genug durch Vertretungen aufgezehrt. Auch der Halbtagskindergarten ist eine deutsche Krankheit und geht nach Ansicht von Schmitt-Wenkebach völlig am Bildungsgedanken vorbei. Er ist allenfalls ein Minimalangebot, und selbst das erreicht noch nicht alle Dreijährigen.

Kindergärten in Deutschland kennzeichnet der Mangel. Das sieht auch Sylvia Steinhauer-Lisicki, Leiterin der Kölner Kindertagesstätte "Brunnenkinder". Ungezählte Kinderfußtritte haben die Schaumstoffmatten im Tobe-Raum zerschlissen und viele 100 Kuschelstunden das Sofa abgewetzt. Sie haben ihren Dienst längst getan, aber für Neues fehlt Geld. Dabei gehe es ihnen noch gut, sagt Steinhauer-Lisicki. Drei altersgemischte Gruppen werden von zwölf Fachkräften betreut. Das Team ist engagiert, und die Eltern, die auch Träger der Einrichtung sind, greifen am Wochenende schon mal selbst zu Pinsel und Farbe.

Erzieher als Küchenhilfen

Bewältigung des täglichen Lebens - das ist die Bildung, die in Kindergärten nötig ist. (Foto: Foto: Photodisch)

"Dennoch merken wir, dass wir an unsere Grenzen stoßen", sagt die Leiterin. Wenn zwei oder drei Kolleginnen gleichzeitig ausfallen, steht etwa der wöchentliche Waldtag schnell auf der Kippe. "Kinder, die Probleme haben und Hilfe brauchen, gehen an so einem Tag schon mal unter." Und die Bedingungen werden eher schlechter. In diesem Jahr kürzte das Land Nordrhein-Westfalen die Zuschüsse für Sachmittel. Für die Brunnenkinder bedeutet das 4500 Euro weniger.

Doch nicht nur die Rahmenbedingungen, auch die Ausbildung der Erzieherinnen muss aufgewertet werden, findet Barbara Schmitt-Wenkebach. Im Gegensatz zu vielen europäischen Nachbarn bildet Deutschland Erzieherinnen noch immer an eigenen Fachschulen und nicht an Hochschulen aus. "Theoretisch ist die Ausbildung gut", sagt Schmitt-Wenkebach. Aber es ist eben nur eine schulische Ausbildung, die den Schülerinnen alles vorgibt. Wer so lernt, hat Schwierigkeiten, sich auf unbekannte Situationen einzustellen. Die Studiendirektorin plädiert für eine Hochschulausbildung, die auch wissenschaftliches Arbeiten und analytische Fertigkeiten vermittelt.

Doch ein flächendeckendes Erzieher-Studium wird es in naher Zukunft nicht geben. "14 der 16 Kultusminister haben das abgelehnt", sagt Norbert Hocke, stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Dem Bildungsauftrag von Kindergärten stehe nicht nur das klassische deutsche Familienbild entgegen. Das Thema werde einfach vernachlässigt. "Wir haben in Deutschland nur sechs Lehrstühle für frühkindliche Pädagogik, aber 30 für Japanologie." Hocke zweifelt, dass es die Politik mit der Bildung im Kindergarten ernst meint. "Für Eliteuniversitäten kriegen wir ziemlich schnell Geld zusammen, und auch für die offenen Ganztagsgrundschulen gibt es was, aber für die Kitas kriegen wir das Geld nicht." Im Gegenteil: Es wird immer mehr gespart. Gruppengrößen werden je nach Kassenlage aufgestockt, Erzieherinnen müssen die Arbeit von Küchenhilfen übernehmen, und zu Fortbildungen kommen sie kaum noch. "In den letzten drei bis vier Jahren bekommen vor allem Erzieherinnen der öffentlichen Einrichtungen für Fortbildungen nicht mehr frei", sagt Hocke.

Die Politik scheint selbst nicht davon überzeugt zu sein, dass Kindergärten den Bildungsauftrag erfüllen können. In einigen Bundesländern setzt man lieber auf klassische Bildung und schickt die Kinder einfach früher in die Schule. "Das ist ein Schlag für jede engagierte Erzieherin", sagt Barbara Schmitt-Wenkebach. Mehr Bildung für Kleinkinder heißt aus Sicht des Pädagogik-Professors Schäfer aber nicht, einfach ein bisschen früher mit Rechnen, Lesen und Schreiben anzufangen. Anders als vielleicht manche Eltern, die ihre Kinder mehrere Kilometer fahren, damit sie schon im Kindergarten Englisch lernen, fasst Schäfer Bildung viel weiter. "Bildung ist alles, was wir zur Bewältigung des täglichen Lebens brauchen." Das lernen besonders kleinere Kinder durch Ausprobieren und sinnliche Erfahrungen. "Kindergarten sollte nicht verschult werden, die Grundschule sollte sich vielmehr in Richtung Kindergarten öffnen." Schäfer verweist auf Beispiele wie die italienische Gemeinde Reggio, die bereits vor 40 Jahren in die Bildung der Jüngsten investierte. Hier gibt es Kindergärten mit eigenen Ateliers, in denen Kinder nicht je nach Kalendermonat Osterhasen, Martinslaternen oder Sonnenblumen basteln, sondern mit verschiedenen Materialien forschen. Sie haben der Gemeinde mittlerweile einen regelrechten Bildungstourismus beschert. Mehr Förderung an der Basis könnte sich schließlich auch an der Spitze auswirken, denkt Schäfer. "Auch der Sport betreibt Breitenförderung, um Eliten zu bekommen."

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