Besuch im Heimatort der verschwundenen Madeleine McCann:Alle Macht für Maddie

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In Rothley zeigt sich, welche Emotionen das Schicksal der Vierjährigen in Bewegung setzt.

Wolfgang Koydl

Winnie Puuh, der Bär, sitzt da, und gleich neben ihm lugt Bugs Bunny, der Hase, aus der Hecke hervor. Puuhs Freunde Eeyore und Tigger haben sich dazugesellt, sowie Tweety, der freche Kanarienvogel, und zahllose Stofflämmchen, Plüschkaninchen, Puppen und bergeweise Teddybären in allen Pastellfarben eines Regenbogens.

Gerry McCann, der Vater der vermissten Maddie, betrachtet Briefe und Geschenke für seine Tochter in Rothley. (Foto: Foto:)

Ein Kindertraum ist es, der hier auf dem Marktplatz des mittelenglischen Dorfes Rothley vor dem Kriegerdenkmal aufgetürmt wurde: Hunderte Stofftiere, Geburtstagskarten, Gedichte, Zeichnungen und Fotos.

Aber es ist kein Traum, hier versucht man eher einen Albtraum zu bannen - mit Mitteln, die anrührend wirken in ihrer Hilflosigkeit. Denn es ist der wohl dunkelste und furchtbarste Albtraum, in dem ein Mensch versinken kann - wenn das eigene Kind von Fremden geraubt wird.

Die Geschenke, die Karten und die gelben Bändchen, die um Zaunpfosten, Laternenmasten, Zweige und Parkbänke gewunden sind, erinnern daran, dass ein Dorf die Hoffnung nicht aufgegeben hat, ein kleines Mädchen doch noch wohlbehalten und unversehrt zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern zu Hause wiederzusehen.

Mit dem Rücken zur Wand

Fast einen Monat ist es her, seit die vierjährige Madeleine McCann aus dem 3500 Einwohner zählenden Ort Rothley unweit der Kleinstadt Leicester von Unbekannten aus ihrem Bettchen in einem Ferienclub im portugiesischen Küstenort Praia da Luz verschleppt wurde.

Fast ein Monat, in dem sich die Polizei wortkarg von Pressekonferenz zu Pressekonferenz quälte, ein Monat, in dem sich keine Hinweise und keine neuen Spuren erschlossen haben, und in dem gegen den einzigen bislang benannten Verdächtigen keine wirklich handfesten Beweise zusammengetragen werden konnten.

Maddie bleibt wie vom Erdboden verschluckt - so wie unzählige andere Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt. In Deutschland gelten 1653 Kinder als verschollen, 7000 sind es in Großbritannien, in den USA werden die Akten von 450.000 Kindern geführt, die verschleppt wurden, von zu Hause weggelaufen sind oder von einem Elternteil versteckt werden.

Als sie verschwanden, standen auch ihre Namen in der Zeitung, da ermittelte auch in ihren Fällen die Polizei. Doch über kurz oder lang schlief zuerst das öffentliche Interesse ein, dann erlahmten die Fahndungsanstrengungen der Polizei.

Niemandem, nicht wahr, kann man wirklich einen Vorwurf machen. Spuren erkalten, und jeden Tag nehmen Polizeibeamte neue Fälle auf. Das Leben, wie man so schön sagt, geht weiter - im Guten wie im Bösen. Nein, geschlossen werden die Akten nicht.

Sie rutschen nur immer weiter nach hinten, bis sie aus dem Blick verschwunden sind. Zurück bleiben Eltern, Großeltern, Freunde und Geschwister - alleine mit ihrem Schmerz, mit ihrer Ratlosigkeit und vor allem mit einer die Seele zerfressenden Ungewissheit über das Schicksal der Verschwundenen, die vielleicht grausamer ist, als es der Tod der Tochter oder des Sohnes wären.

Gerry und Kate McCann wollen dieses Schicksal nicht akzeptieren. Sie wollen nicht zuerst auf den hinteren Zeitungsseiten und dann in der Vergessenheit verschwinden, sie wollen nicht, dass das Bild ihrer Tochter zu einem von Tausenden Fotos wird, die auf einer der zahlreichen Fahndungs-Websites vor den Augen zu einem bunten Mosaik verschwimmen. Die Eltern von Maddie wehren sich, und in ihrem Kampf für ihre Tochter sind sie zu Sprechern Tausender Eltern geworden, die in derselben Lage sind.

"Wir sind total entschlossen, sie zurückzubekommen", sagte Gerry McCann auf einer seiner Pressekonferenzen in Praia da Luz, und sein harter Glasgower Akzent klang dabei, als ob in einer Gesteinsmühle Kiesel kleingerieben würden. "Für uns ist das ein bisschen so, als ob wir einen Krieg führen würden", hatte er hinzugefügt, ohne die Stimme auch nur ein wenig anzuheben. "Das ist so eine Mit-dem-Rücken-zur-Wand-Sache."

Sie mögen mit dem Rücken zur Wand stehen, aber alleine sind die McCanns schon lange nicht mehr. Mehr als 130 Millionen Menschen haben ihre Website findmadeleine.com besucht, Zehntausende haben Fotos des blonden Mädchens heruntergeladen und als Plakate ausgedruckt; beim FA Cup-Finale im neuen Londoner Wembley-Stadion wurde in der Halbzeit ein Video von Maddie gezeigt, ein neuer Kurzfilm über sie soll demnächst in allen britischen Kinos vor jeder Vorstellung laufen.

Sogar eine eigene Kennmelodie hat die Kampagne inzwischen: den Hit "Don't You Forget About Me". Die Gruppe Simple Minds will ihn erneut herausbringen und den Verkaufserlös der Madeleine-Kampagne stiften.

In diesen sogenannten Kampffonds sind bereits knapp 600.000 Euro geflossen. Das Geld soll es dem 38-jährigen Kardiologen aus Leicester und seiner gleichaltrigen Frau bis auf Weiteres erlauben, ihre Zeit ausschließlich der Suche nach Madeleine zu widmen.

"Es ist undenkbar, dass wir ohne Madeleine nach Hause fahren", hat Gerry McCann mehr als einmal gelobt. Und seine Frau Kate hat bekräftigt: "Wir werden sie nicht im Stich lassen; wenn wir nach Hause fahren, dann als Familie von fünf" - Vater, Mutter, Tochter und die beiden zwei Jahre alten Zwillinge Sean und Amelie.

Zudem ist es Kate und Gerry McCann gelungen, Mächtige und Prominente für ihren Kampf zu gewinnen: Fußballspieler wie David Beckham und Cristiano Ronaldo veröffentlichten Hilfsappelle, Britanniens designierter Premierminister Gordon Brown intervenierte mehrmals im Namen der McCanns bei den portugiesischen Behörden, Prinz Charles und Gemahlin Camilla versicherten die Eltern ihrer "Gedanken und Gebete", und am Mittwochvormittag hat auch Papst Benedikt die beiden britischen Katholiken empfangen.

Nächste Woche wollen die McCanns ihre Kampagne auf andere Staaten ausweiten: Zunächst sind Reisen nach Madrid und Sevilla geplant, dann nach Berlin, in die Niederlande und nach Marokko. Wenn es nach ihnen geht, soll jeder Erdenbürger das Gesicht ihrer Tochter kennen - und gegebenenfalls erkennen.

Mehr als drei Millionen Pfund sind unterdessen als Belohnung für Hinweise auf den Verbleib des Mädchens gespendet worden - unter anderen von Prominenten wie der Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling und dem Virgin-Boss Sir Richard Branston.

Geschenke und Karten an Zäunen und Bänken in Rothley, Maddies Heimatort im englischen Leicestershire. (Foto: Foto: afp)

So umfangreich ist die Bewegung mittlerweile geworden, dass Kate und Gerry in den vergangenen Tagen Bewerbungsunterlagen studierten - Zeugnisse, Lebensläufe, Referenzen. Denn sie müssen professionelle Manager berufen - einen, der ihre Kampagne führt, und einen, der ihre Fonds verwaltet.

Weiter keine Spur

Hilfe kommt von allen Seiten: Der Betreiber des Feriendorfes, in dem Maddie geraubt wurde, hat ihnen kostenlos ein neues Appartement und einen Pressesprecher überlassen. Eine Gruppe britischer Spitzenanwälte hat sich in den Fall eingeschaltet; und für ihren Flug zum Papst nach Rom stellte Sir Philip Green, der Eigner der Mode-Kette Top Shop, seinen Gulfstream-Jet zur Verfügung.

Ihre Presseauftritte haben die Eltern von Maddie mittlerweile bei TV-Zuschauern ebenso bekannt gemacht wie ihre Tochter. Hoch gewachsen, hager und mit verhärmten Gesichtern stehen sie Hand in Hand vor den Kameras.

"Ich wundere mich immer, wenn ich die beiden im Fernsehen sehe, wie ruhig, gefasst und doch professionell sie sind", bemerkt Brian Kennedy, der Onkel von Kate. "Wir sind keine Medienleute, wir haben doch keine Erfahrung im Umgang mit Journalisten." Kennedy lebt ebenfalls in Rothley, wo er mittlerweile selbst zur Medienfigur geworden ist, wenn er am Schrein für Madeleine auf dem Marktplatz Interviews gibt.

Doch die Medien hätten sich sowieso der McCanns bemächtigt, hätten sie eingespeichelt, durchgekaut und irgendwann wieder ausgespuckt. Ungewöhnlich ist nur, dass Maddies Eltern diese Aufmerksamkeit nicht scheuten, dass sie sich nicht verkrochen, sondern aktiv selbst in die Öffentlichkeit traten und diese für ihr Anliegen einspannten.

"Die Hilfe der Medien war wunderbar", erklärte Gerry McCann seine Entscheidung. "Aber wir wissen, dass das nicht ewig dauern wird, wir wissen, dass andere Nachrichten Madeleines Entführung überlagern werden. Deshalb mussten wir selbst die Kontrolle übernehmen und die Suche nach unserer Tochter publik machen."

Mit einer Mischung aus unerschütterlicher Willenskraft, übermenschlichem Glauben und einem unerwarteten Talent für das, was Fachleute "news management" nennen, hat es das unscheinbare Arztehepaar tatsächlich geschafft, die öffentliche Aufmerksamkeit wachzuhalten. Denn nach den Regeln des journalistischen Handwerks gäbe es nichts mehr zu berichten - es gibt keine Sichtungen, keine Spuren, nicht einmal neue Spekulationen.

So aber wird es zur Nachricht, wenn die McCanns das letzte Foto ihres Mädchens vor dem Verschwinden den Medien zur Verfügung stellen und kurz darauf - mit einem Sinn für perfektes Timing - die Videoclips eines Freundes, der mit seinem Fotoapparat gefilmt hatte, wie Maddie beim Abflug nach Faro die Gangway hochkletterte.

Mehr als die übliche Neugier

Selbst nüchterne Beobachter wie das Londoner Intellektuellen-Magazin New Statesman fühlen sich mittlerweile an "große kulturelle Kräfte der Diana-Art" erinnert. So wie beim Tod der Prinzessin vor zehn Jahren seien auch diesmal wieder in der britischen Öffentlichkeit Kräfte am Werk, "die über das Vorstellungsvermögen von Spin-Doktoren und Chefredakteuren hinausgehen", schrieb die Zeitschrift.

"Die McCanns, so entschlossen wie verzweifelt sie sind, haben diese Kräfte mit großem Geschick für ihre Zwecke einzuspannen verstanden." Vermutlich könnten die Medien das Thema gar nicht mehr fallen lassen, selbst wenn sie es wollten. Den McCanns ist es nämlich gelungen, mit Hilfe der Zeitungen, des Internets und des Fernsehens eine Brücke zur Öffentlichkeit zu schlagen. Es ist nicht die übliche Nachrichtenneugier, die das Interesse speist, sondern ein tiefer gehendes Gefühl, das jeder Mensch nachvollziehen kann: der unsägliche Schmerz, wenn jemand das Liebste und Teuerste raubt, das man besitzt - das eigene Kind.

Auf diese Weise haben die McCanns unbeabsichtigt eine Massenbewegung gegründet, die über die Grenzen Britanniens hinaus die Menschen anspricht. Welche konkrete Form sie einmal annehmen wird, auf welche Weise sie politischen oder gesellschaftlichen Druck ausüben wird, lässt sich erst in groben Umrissen erkennen. Aber es wird wohl eine Lobby gegen die Gleichgültigkeit werden, gegen das Vergessen, gegen das Abstumpfen.

Das meint jedenfalls Val Armstrong, die in Rothley das Pub The Royal Oak betreibt, gleich gegenüber der Gedenkstätte für Madeleine, die sie "das kleine Mädchen unserer ganzen Nation" nennt. "Wir werden es nie wieder zulassen, dass es unter den Teppich gekehrt wird, wenn Kinder verschwinden", gelobt sie. "Wir werden verlangen, dass etwas geschieht." Wie das genau geschehen soll, kann sie noch nicht sagen. Wichtig sei zunächst einmal der Gedanke.

Val Amstrong war es auch, die als Erste die Idee für die Gedenkstätte hatte - "für Leute, die sich bei einem Gebet in der Kirche vielleicht unwohl gefühlt hätten". Inzwischen kann sie vom Fenster aus beobachten, wie der Strom der Besucher nicht abreißt. "Sie kommen aus dem ganzen Land, aber auch zwei Japaner waren schon hier und Australier." Meist sind es aber Kinder, die ein gelbes Band befestigen, ein Stofftier mitbringen oder gute Wünsche für Madeleine. "Sie ist sehr klug und ganz lieb und sehr hübsch", steht in krakeliger Schrift auf einem Plakat. "Manchmal hat sie einen Hut auf. Jeder auf der ganzen Welt sucht nach ihr."

© SZ vom 31.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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