Bergwacht:Kampf gegen den Kick des Leichtsinns

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Verzweifelte Angehörige, entsetzte Kindergesichter: Die Lebensretter in den roten Jacken sind bei ihrer ehrenamlichen Arbeit einer enormen psychischen Belastung ausgesetzt. Zwei Tage unterwegs in den Alpen.

Von Karin Bühler

Viele Mythen umgeben diese Kerle in den roten Jacken. Diese Männer, die im steilen Fels zuhause sind und die Berge lieben. Man muss nicht besonders betonen, dass es so viele Heldengeschichten um die Männer der Bergwacht gibt.

Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Bergwacht retten täglich Menschenleben. (Foto: Foto: dpa)

Einmal, weil es tagtäglich ihre Aufgabe ist, Menschenleben zu retten. Und zum anderen, weil vieles von dem, was sie tun, so schemenhaft bleibt, so diffus und so fern wie der Gipfel des Hochgrat an diesem diesigen Samstagmorgen im Allgäu.

"Bergwacht ist cool"

Auch Engelbert Blessing kennt natürlich all die Mythen. "Bergwacht ist cool", hat er schon gedacht, als er mit 13 in die Jugendgruppe der Bergwacht Immenstadt eintrat.

Von der psychischen Belastung hat er damals nichts geahnt, er hat nichts gewusst von verzweifelten Angehörigen, von entsetzten Kindergesichtern und auch nichts von abgestürzten Bergsteigern oder Menschen, die sich im Wald das Leben nehmen.

Das sind Situationen, mit denen sich Engelbert Blessing erst jetzt auseinander setzen muss. Situationen, die keiner der Retter in den roten Jacken einfach vergisst und mit denen jeder auf seine Art zurecht kommen muss.

So wie zum Beispiel Otto Möslang, 58, und Günther Kopp, 47, zwei erfahrene Bergwachtmänner. Die beiden haben einen Weg gefunden, mit der Belastung umzugehen. Engelbert Blessing, Zimmermannslehrling, Bergwacht-Anwärter und 19 Jahre alt, ist noch dabei, ihn zu finden.

Im Sommer sind die Unfälle schwerer

Vergangenes Jahr wurde die Bergwacht Bayern 12000 Mal alarmiert. In diesem Jahr wird die Zahl ähnlich hoch ausfallen. Im Winter sind die Einsätze häufiger, etwa Dreiviertel aller Einsätze gelten Skifahrern, Snowboardern, Rodlern, Tourengehern und Winterwanderern.

Im Sommer jedoch sind die Unfälle schwerer. Da haben die Retter nicht nur Menschen mit Kreislaufschwäche, Knochenbrüchen, Verstauchungen oder Herzproblemen zu versorgen, sondern auch viele Schwerverletzte und Tote.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Bergunfälle stetig weiter gestiegen, weil auch die Zahl der Bergsportler gestiegen ist. Immer mehr Menschen fahren Ski, und der Wandertrend entwickelt sich rasant. Bereits jetzt wandern 34 Millionen Deutsche mehr oder weniger regelmäßig.

Mit dem Spätsommer hat die Hauptwanderzeit begonnen, und jeder sonnige Tage bedeutet: viele Menschen in den Bergen - und damit viele Einsätze. Bis zu zehnmal an einem Sonntag rückt die Bergwacht im gesamten Allgäu manchmal aus. In Bayern gibt es Bereitschaften in 119 Kommunen und mehr als 300 Rettungswachen.

4200 ehrenamtliche Bergwacht-Mitarbeiter

Die 1920 gegründete Rettungs- und Naturschutzorganisation ist seit 1945 dem Roten Kreuz angegliedert. Heute hat die Bergwacht Bayern 4200 aktive Mitglieder, fünf Prozent davon sind Frauen - und alle arbeiten ehrenamtlich.

Johannes kann nicht mehr weiter. Das Blut rinnt von seiner Stirn in die Augenhöhle, an der Nase entlang bis zum Mundwinkel. Der Schüler sitzt im Gras, an einen zersplitterten Baumstumpf gelehnt. Hinter ihm fällt der Hang ab, 30 Meter steil nach unten.

Auf dem Weg zur Allgäuer Alpe Seifenmoos ist er vom Weg abgekommen, zwischen störrischen Heidelbeersträuchern und jungen Tannen umgeknickt und beim Fallen mit dem Kopf gegen den Holzstumpf gekracht. Der Knöchel schmerzt, auf der Stirn klafft eine Wunde.

Übung mit Unglücksopfer

Der Junge schaut so leidend wie möglich, als die Bergwacht zum Unfallort kommt. Aber dann muss er doch grinsen. Er hat's versucht, immerhin. Als Unglücksopfer hat der Bub noch wenig Übung, er ist erst seit einem halben Jahr Bergwacht-Anwärter, und an diesem Samstagmorgen musste er die Rolle des Opfers spielen. Seine Kopfwunde ist aus Knetgummi, das Blut aus Lebensmittelfarbe - und die Verletzung am Sprunggelenk nur simuliert. Aber die Bergung oberhalb der Alpe Seifenmoos soll so realistisch wie möglich sein.

Bei der Übung ist Engelbert Blessing der Einsatzleiter. Der junge Mann aus Gunzensried ist ein hagerer Kerl mit blonden Haarzotteln und einem hellen Bartflaum. Er muss jetzt reagieren wie im Ernstfall. Er muss entscheiden. Und für die Einsatzleiter ist jede Entscheidung das Ergebnis eines Zusammenspiels von Kalkulation, Kühnheit und Konzentration.

Engelbert trägt ein Funkgerät in der Hand und einen Helm auf dem Kopf. Er koordiniert die Übung, bei der die Anwärter, alle zwischen 16 und 19 Jahre alt, den Kopf des "Opfers" verbinden, sein Bein schienen und den Buben auf eine Gebirgstrage schnallen müssen, um ihn dann über die Kante abzuseilen - 30 Meter steil nach unten. Bergwacht funktioniert nur im Team.

Die Immenstädter sind froh, dass sie die Bergwachthütte im Seifenmoos für die Ausbildung nutzen können. Die Hütte liegt auf 1356 Metern. Von der Terrasse sieht man die Nagelfluhkette, ihr Haupteinsatzgebiet: ganz links der Mittag mit dem Gipfelkreuz auf 1452 Metern, daneben Steineberg, Stuiben, Sederer, Buralpkopf, Gündleskopf, ganz hinten der 1833 Meter hohe Hochgrat.

Zwei Jahre Ausbildung

Für Engelbert steht bald die Prüfung an, die aus einem Anwärter einen Bergwachtmann macht. Die Ausbildung dauert mindestens zwei Jahre - dazu gehören Skitest, Klettertest, Sanitätsausbildung und Rettungsübungen, Wetter- und Kartenkunde, GPS und auch das Wissen um alpine Gefahren.

Es ist später Vormittag, und noch immer hängen Wolken über den Felsspitzen. Vor der Hütte bimmeln die Glocken der grasenden Kühe. Der Klang ist monoton, dumpf und beruhigend. Engelbert hat seinen Helm ausgezogen und die rote Dienstjacke mit dem Edelweiß-Emblem abgelegt.

Er sitzt jetzt in der Stube der Seifenmoos-Alm. Die Einrichtung ist karg, aber gemütlich: ein paar Holztische, ein altes Röhrenradio, an der Decke baumeln Hirschgeweihe mit Glühbirnen, die leuchten wenn es dunkel wird.

Turnschuh-Wahnsinn

Vom Fenster aus sieht man direkt auf den Stuiben. "Der Berg steht nur da", sagt Engelbert, "der tut dir nichts. Aber es ist Wahnsinn, wenn sich manche in Turnschuhen auf Berge wie den Höfats 'raufkämpfen. Der ist extrem - und schon in Bergschuhen schwer zu schaffen."

Engelbert weiß das, weil er selbst schon oben war und dabei ziemlich ins Schwitzen kam. Den Mann mit den Turnschuhen fand die Bergwacht Wochen später: tot und mit gebrochenen Knochen. Engelbert Blessing schüttelt den Kopf. "Das war halt ein Unterländer. Einer aus dem extremsten Flachland." Viele Unfälle könnten mit der richtigen Ausrüstung, vor allem mit stabilen Schuhen vermieden werden.

An der Holzwand der Seifenmooshütte hängt ein Rahmen mit fünf Fotografien. Auf ihnen sieht man Bergwachtmänner. Einer posiert am Gipfelkreuz, ein anderer klemmt im Spagat zwischen zwei Felsen. Die Männer auf den Bildern leben nicht mehr. Ihre Fotos hängen trotzdem in der Hütte. Die Gemeinschaft bei der Bergwacht besteht über den Tod hinaus.

Totenbergung als letzter Dienst

Mit dem Tod in den Bergen geht jeder auf seine Weise um. Pragmatisch zum Beispiel, wie Otto Möslang, der aus einer Generation stammt, "bei der das Sterben zum Leben gehört hat", wo der Großvater noch in der Stube aufgebahrt lag, bevor er beerdigt wurde. Für Möslang ist die Totenbergung "der letzte Dienst, den man für einen Menschen verrichten kann".

Der Allgäuer Ausbildungsleiter ist ein engagierter Retter. Einer, der sich ständig Gedanken macht um die Qualität der Ausbildung. Um Trends wie Mountainbiken, Canyoning oder Eisklettern, die eine spezielle Schulung der Retter notwendig machen. Möslang spricht von bayernweiten Standards und computergestützten Suchaktionen. Es ist ihm wichtig zu vermitteln, dass sich die Bergwacht der neuen Zeit anpasst.

Geschwächt und unterkühlt

Der 58-Jährige ist als Jugendlicher zur Bergwacht gegangen, weil er einmal selbst gerettet wurde. Ein Skiunfall, nichts dramatisches, "aber helfen", hat er damals gedacht, "ist eine gute Sache. Irgendjemand muss es ja tun." Obwohl es Zeit kostet, Verantwortung fordert und manchmal eine extreme Herausforderung ist. Otto Möslang sagt: "Ich hole mir die Kraft in den Bergen, und ich geb' sie dort auch wieder zurück."

Der stämmige Mann hat kurzes graues Haar, sein Gesicht ist so kantig wie sein Allgäuer Dialekt. Seine Augen haben ein verwaschenes Blau. Es sind Augen, die viel Unglück gesehen haben, aber auch ein paar Wunder. Im Juni zum Beispiel, als die Nächte noch frostig waren: Vermisstensuche mit 110 Einsatzkräften. Fünf Tage suchten etliche Bereitschaften nach einer 81-jährigen Hamburgerin, die ihre Wanderroute spontan geändert hatte und in einen Tobel gestürzt war.

Wie sich später nach einer Radiosuchmeldung und einem Hinweis von Urlaubern herausstellte, war sie auf dem Weg von Sibratsgfäll nach Balderschwang. Eine Suchmannschaft fand schließlich Spuren am Ufer der Bolgenach, beim nächsten Hubschrauberflug wurde die Frau entdeckt. Sie war geschwächt, unterkühlt, aber ansprechbar - und wurde ins Krankenhaus geflogen.

Voriges Jahr musste die Bergwacht in Bayern 65 Tote bergen. Die Rettungskosten tragen im Normalfall Versicherungen, Krankenkassen oder die Angehörigen. 350 Euro kostet eine Bergung mit dem Hubschrauber, Vermissten- oder Lawinenbergungen können sich auf 2500 Euro belaufen. Der Jahresetat der Bergwacht Bayern lag 2003 bei 4,2 Millionen Euro, mehr als die Hälfte kam durch Spenden in die Kasse, 1,2 Millionen durch Gebühren für Rettungseinsätze, 800 000 Euro vom Staat.

In diesem Jahr sieht die Verteilung ähnlich aus. Die Retter selbst verdienen nichts. Sie haben feste Dienstwochenenden, etwa vier im halben Jahr, und sie tragen wie Feuerwehrleute ständig einen Piepser am Körper.

Auf der Terrasse der Diensthütte genehmigt sich Günther Kopp gerade ein Bier. Er trägt das T-Shirt mit dem Edelweiß-Emblem, obwohl er heute keinen Dienst hat. Er ist ganz allein für sich unterwegs gewesen Richtung Steineberg, und jetzt schaut er vorbei auf der Hütte, weil er weiß, dass er hier die Männer trifft, von denen viele nicht nur Bergwacht-Kollegen, sondern auch Freunde sind.

Die Sonne hat den Dunst vertrieben, es ist herrlich warm im Seifenmoos, den Hochgrat erkennt man jetzt klar. "Ich brauch' die Berge", sagt Günther Kopp, "sommers wie winters."

Reanimieren half nicht mehr

Bevor er absteigt von der Alpe Seifenmoos, fragt er beiläufig nach Engelbert. "Alles in Ordnung mit dem Jungen?" - "Alles in Ordnung", antworten die Kollegen. Kürzlich erst hat Engelbert Blessing an seinem ersten wirklichen Einsatz teilgenommen - es war gleich eine Totenbergung: Herzanfall, der Hubschrauber kam, Reanimieren half nicht mehr. Engelbert trug den Sauerstoff und schaute den erfahrenen Kollegen zu. "Ich war perplex", sagt er, "aber ich hab' mir das schlimmer vorgestellt." Kopp hat sich trotzdem um den Jungen gesorgt.

Hier am Steigbach, wo sich das klare Gebirgswasser sammelt, ist Günther Kopp daheim. Im Allgäuer Voralpenland, am Höfats, am Stuiben, am Mittag und auf den Almen zwischen drin - seit 47 Jahren ist das so. Auch wenn er manchmal raus muss, um Menschen zu suchen. Verunglückte, Vermisste, Abgestürzte. Er hat zerschundene Körper gesehen, Menschen mit gebrochenem Genick. Und Tote. So viele, dass es kaum mehr auszuhalten war.

Ein Unfall, der unvergessen bleibt

Ein Unfall, 20 Jahre mag er her sein, ist ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Beim Krätzenstein am Stuiben stürzte damals eine Cessna ab. Die Bergwacht fuhr die Angehörigen zur Unfallstelle, auch Kinder, deren Eltern am Boden lagen "in tausend Fetzen". Keiner hat damals mit den Kindern geredet.

Kopp ist dieses Bild geblieben, "wie die Kinder auf ihre Eltern schauen, die wir in Totensäcke laden". Nichts sagen, nichts hören, nichts sehen, die Arbeit erledigen - schnell weg. Das sei lange Zeit die Regel gewesen bei der Bergwacht.

Psychologische Schulung

Vor drei Jahren ließ sich Kopp beim Kriseninterventionsdienst (Kid) ausbilden. Eine psychologische Schulung für den Umgang mit Angehörigen und ein weiteres Seminar für die Selbsthilfe bei belastenden Einsätzen (SBE). Er hat das für sich selbst getan, für die Angehörigen und um Kollegen zu helfen. Deshalb hat er sich auch um Engelbert gesorgt.

Initiator von Kid war der Theologe Andreas Müller-Cyran, der inzwischen für die bayerischen Diözesen Seelsorge für Rettungskräfte betreibt. Die Ausbildung ist Günther Kopp eine große Hilfe. Aber auch eine schwierige Aufgabe. "Wir sind ja nicht die Obercoolen", sagt er kurz vor dem Immenstädter Bergwacht-Depot.

Dort angekommen, raucht er eine Zigarette, setzt sich auf eine Bank in der Sonne und dreht seine Mütze in den Händen, die verschwitzt und ein bisschen abgewetzt ist. Er schaut auf die Mütze, aber er sieht sie nicht, weil er nach Worten sucht, um zu erklären, was ihn bewegt. Gefühle? Darf einer Gefühle zeigen, der zu einer alpinen Elitetruppe gehört? Natürlich sind Retter verletzlich, keiner steckt den Anblick eines Toten einfach weg. "Man überlegt: Was hat dieser Mensch vor einer halben Stunde gemacht?" Die Frage bleibt einem.

Richtig reagieren lernen

"Von den Psycho-Fuzzies", sagt Günther Kopp, habe er früher nichts gehalten. Bis er selber zu den Psycho-Fuzzies ging, um nicht verrückt zu werden. Seit der psychologischen Ausbildung hat er wenigstens eine Anleitung, Anhaltspunkte, wie er reagieren, was er sagen kann. "nicht nur das Selbstdenken".

Er weiß, dass es Angehörigen hilft, wenn sie Abschied nehmen können. Nach einem Sturz aus 60 Metern sieht ein Körper schrecklich aus. Aber die Angehörigen wissen das, weil Günther Kopp sie auf den Anblick vorbereitet.

Am Himmel dröhnt Christoph 17, der Helikopter aus Kempten. "Oberstaufen - Verletzte Person - Absturz am Wiesenhang, 40 Meter" kam vor ein paar Minuten über Funk. Wie zur Verteidigung seiner Heimat sagt Kopp: "Es gibt keine gefährlichen Berge, wenn du dich auf sie einstellst."

Er dreht immer noch die Mütze mit der ausgefransten Naht in der Hand, aber er schaut auf, als der Hubschrauber über Immenstadt fliegt. Die Sonne ist hinter dem Bergrücken verschwunden. Sie blendet nicht mehr. Sieben Minuten später landet der Hubschrauber im Krankenhaus Kempten.

© SZ vom 14.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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