Bergsteiger-Drama:Sturz in die Gewinnzone

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Jetzt auch im Kino: Wie ein britischer Bergsteiger dem sicheren Tod entkam und danach lernte, seine traumatischen Erlebnisse zu vermarkten.

Von Karin Bühler

Jetzt liegt das Messer zwischen Zangen, öligen Muttern und alten Angelruten in einer Schublade. Irgendwo unten im Keller von Joe Simpsons Haus in Sheffield. "Es ist ja nur ein Messer mit einem roten Plastikgriff", sagt Simpson. Kein Grund, sentimental zu werden. Für den 43-Jährigen ist es ein Werkzeug, das zu seiner Geschichte gehört wie der Schlafsack, die Eisschraube und das Seil, das ihn vor 19 Jahren mit seinem Bergkameraden Simon Yates verband.

Das Messer gehört zu einem Drama, das sich 1985 bei einer Expedition in den peruanischen Anden abspielte. Joe Simpson und Simon Yates erkletterten die Westwand des 6365 Meter hohen Berges Siula Grande, was bis dahin noch niemand geschafft hatte.

Noch heute sind sie die einzigen, die den Gipfel auf dieser Route je erreichten. Sie waren schon beim Abstieg, als Simpson auf einen Felsblock fiel. Sein Knie splitterte, der Schienbeinknochen bohrte sich durch das Gelenk. Er litt Höllenqualen. Yates entschloss sich, den verletzten Freund abzuseilen, womit er sich selbst in Lebensgefahr brachte.

Dann die Katastrophe: Simpson stürzte wieder, diesmal über einen Felsabbruch. Er baumelte frei am Kletterseil, zwei Meter entfernt von der Eiswand, die er mit dem Pickel nicht erreichen konnte. Ihm fehlte die Kraft, sich mit steif gefrorenen Fingern nach oben zu ziehen. Also hing er im Seil, das einzig von seinem Freund gehalten wurde.

Den Freund aufgeben, um zu überleben

Simpson wartete in Todesangst. Weiter oben wartete Yates auf ein Zeichen. Sie hörten einander nicht. Sie hörten nur den Wind, und sie spürten die Kälte. Eine Stunde verging, ohne dass etwas passierte. Und die Kräfte von Yates schwanden. Schließlich sah er nur noch eine Lösung, wenn er selbst überleben wollte: Er musste seinen Freund aufgeben.

Die Hände von Simon Yates zitterten, als er das Messer mit dem roten Griff aus dem Rucksack holte. Langsam, seine Fingerkuppen waren schon taub und schwarz vor Kälte, klappte er mit den Zähnen die Klinge heraus. Und er durchschnitt das Seil, an dem sein Freund hing. Simpson stürzte senkrecht hinunter- direkt hinein in eine 100 Meter tiefe Gletscherspalte.

In Großbritannien nennen sie Simon Yates seitdem "Simon, who cut the rope" - den Mann, der das Seil durchschnitt. Der britische Alpenverein reagierte entsetzt und kritisierte die Tat. Ein englischer Kletterer verprügelte Yates sogar bei einer Begegnung in den französischen Alpen.

Simpson überlebte den Sturz

Joe Simpson aber, der den Sturz überlebte, hat seinem Bergkameraden niemals einen Vorwurf gemacht, denn es war aus seiner Sicht die einzig richtige Entscheidung. Um den Ruf des Freundes zu retten, veröffentlichte er ein Tagebuch, das weltweit ein Bestseller wurde: "Touching the Void" - "Sturz ins Leere", so der deutsche Titel. Das Buch, das 1988 erschien, ist Yates gewidmet. Die Geschichte wurde zu einer Bergsteiger-Legende, die mehr als eine Million Leser faszinierte.

Dass aus diesem von Freundschaft, Einsamkeit, Angst und unbedingtem Lebenswillen handelnden Drama ein Film wurde, war nur eine Frage der Zeit. "Geschichten über Menschen in Extremsituationen sind so anziehend, weil es in unserem Leben kaum noch Risiken gibt", sagt Kevin Macdonald, der Regisseur. "Alles im Leben ist doch sonst langweilig und abgesichert." Der Schotte ist kein Unbekannter, er hat bereits einen Oscar gewonnen, für "Ein Tag im September", die Dokumentation über das Münchner Olympia-Attentat von 1972.

An diesem Donnerstag kommt nun sein Film "Sturz ins Leere" in die deutschen Kinos. "Touching the Void" ist das erfolgreichste Doku-Drama, das jemals in englischen Kinos lief. Schon jetzt hat es mehr Zuschauer als "Bowling for Columbine". Kürzlich gewann es den britischen Award für den besten Film des Jahres.

Es ist weder Spiel- noch Dokumentarfilm und doch beides zugleich, ein Doku-Drama, in dem Joe Simpson und Simon Yates zum Publikum sprechen. Sie formulieren Gefühle und Gedanken von damals, während die Schauspieler Brendan Mackey und Nicholas Aaron mit Helm, Stirnlampe und Eispickel im Andenschnee die Ereignisse nachspielen.

"Sturz ins Leere" ist ein kraftvoller Film geworden. Auf eine dezente Art eindringlich und auf unheimliche Art real. "Trotz der hohen Produktionskosten von drei Millionen Euro ist der Film nicht reißerisch oder verkitscht", sagt Alexander Huber, einer der besten deutschen Profi-Kletterer. Er ist froh, dass in diesem Film Bergsteigen endlich einmal so gezeigt wird, wie Bergsteigen ist. Die Amerikaner haben zu Simpson gesagt, dass sie den Film "very british" finden - weil er ins Herz trifft, ohne Geschrei und Übertreibung. Das Drama spielt sich vor allem in den Gesichtern der Bergsteiger ab.

In der Realität von 1985 stieg Yates, nachdem er das Seil gekappt hatte, zum Basislager ab, ohne noch einmal nach dem Freund zu schauen. Er war überzeugt, dass Simpson tot war. Der lag indes auf einem Vorsprung, der seinen Sturz in der Mitte der Gletscherspalte aufgefangen hatte. Simpson war verletzt, aber er lebte. Ohne Hoffnung, hier je wieder herauszukommen.

Aber es gab ja noch das Ende des abgeschnittenen Seils und eine Eisschraube, an der er sich langsam in die Leere abseilte. Ohne zu wissen, was unten ist und ob das Seil reichen würde. Er schaffte es bis auf den Grund der Spalte und fand den Ausgang aus dem eisigen Gefängnis.

Am fünften Tag der Expedition krabbelte er Richtung Basislager, eine Tortur mit dem zerschmetterten Bein. Um zu überleben, trank Simpson Schmelzwasser voller Erdklumpen. Er halluzinierte. Es war am siebten Tag, als Yates und ein Begleiter im Basislager seine Hilferufe hörten. Als sie ihn fanden, wog er nur noch 40 Kilo.

Wäre Simpson im Eis gestorben, gäbe es die Geschichte nicht, aus der inzwischen längst ein Geschäft geworden ist. Zuerst durch das Buch, jetzt durch den Film. Simpson hat Englisch und Philosophie studiert, aber es ist seine Geschichte, die ihn ernährt. Er hält Managerseminare: "Touching the Void in 45 Minuten". Früher kletterte er für Greenpeace die Fassaden des House of Parliament oder am Trafalgar Square hinauf - und wurde deshalb 18 Mal verhaftet. Er war Bergsteiger, Paraglider, Fliegenfischer, Snookerspieler und Biertrinker. Als er den Bestseller schrieb, lebte er von Sozialhilfe.

Seit Oktober sieht sich Simpson nun "als Teil der PR-Maschinerie" des Films. In den USA hat "Touching the Void" in vier Monaten vier Millionen Dollar eingespielt. Und so trat Simpson in Las Vegas, Chicago und Boston auf, bei David Letterman und Oprah Winfrey. Auf seiner Homepage explodierte die Zahl der Zugriffe von 25.000 im Monat auf 270.000.

Und Yates? Der verkrachte sich während der Dreharbeiten in Peru und Chamonix mit dem Team, weshalb er mit dem Film auch nichts mehr zu tun haben will. "Er denkt, wir wollten ihn schlecht machen und dass der Film gegen ihn gerichtet sei. Aber das ist paranoid", sagt Regisseur Kevin Macdonald. Wenn es also einen Gewinner gibt, dann ist es Joe Simpson, das frühere Opfer. Er sagt, er ertrage auf der Leinwand nur noch die letzten Minuten seiner Geschichte, "die glücklichen Fünf".

"Wahrscheinlich können die Kinobesucher das gar nicht verstehen", fügt er hinzu, "aber Sterben ist nicht Hollywood, sondern ein langer, langsamer Prozess, der mich zerstört hat." Andererseits hat das Drama am Siula Grande ihm aber nicht nur Ruhm gebracht, sondern auch sein Einkommen gesichert.

© SZ vom 29.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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