Bankrott in Deutschland:Leben auf dem Schuldenberg

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Die Zahl bankrotter Haushalte hat dramatisch zugenommen, für viele Schuldner wird die Zeit nach dem Absturz zur Hölle.

Sven Loerzer

Ein Haus, ein Auto, Urlaub. "Ich war in einer richtig gutbürgerlichen Lebenssituation", erinnert sich Brigitte Roth. Doch davon ist nichts mehr übrig.

Urlaub ist nicht drin - eine Familie geht in Berlin an einem Plakat mit Strandschönheiten vorbei. (Foto: Foto: dpa)

Die geschiedene Mutter zweier Töchter, die ihren wahren Namen nicht veröffentlicht sehen will, steht vor einem Berg von Schulden: Die 35000 Euro wird sie von ihrem Gehalt als Verkäuferin nie mehr abtragen können.

Brigitte Roth ist überschuldet, weil sie bei einer Bank für einen Geschäftskredit ihres Ex-Ehemannes gebürgt hatte. Ihr Haus hat sie längst aufgeben müssen, inzwischen bewohnt sie eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Münchner Vorort.

Ganz normaler Lebenslauf

Mehr als 3,1 Millionen Haushalte bundesweit können nach den letzten vorliegenden, für 2002 ermittelten Zahlen ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen.

Die Tendenz ist stark steigend, 1994 waren es erst zwei Millionen Haushalte. "Die meisten Betroffenen hatten einen ganz normalen Lebenslauf. Sie haben eine Wohnung oder ein Auto auf Pump gekauft", sagt Klaus Hofmeister, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung.

Dann sei plötzlich der Arbeitsplatz weg oder der Partner trennt sich, und dann "bricht die ganze Finanzkalkulation zusammen wie ein Kartenhaus". Die Überschuldung führt zum Absturz in die Armut.

Etwa ein Viertel der Betroffenen sind gescheiterte Selbständige und ihre Angehörigen. Nicht im Traum hätte Brigitte Roth daran gedacht, dass plötzlich ihre Existenz auf dem Spiel stehen könnte.

Ihr Mann hatte ja schon zehn Jahre lang erfolgreich ein Geschäft geführt. Als sich ihm die Möglichkeit bot, einen größeren Betrieb zu übernehmen, griff er zu. Die Banken finanzierten ihm die Investition.

Brigitte Roth zögerte nicht, als sie für einen Kredit bürgen sollte. "Nur eine Unterschrift, reine Formsache", hieß es. Doch das Geschäft lief nicht wie geplant: Das Darlehen war zu einem Teil als Kontokorrentkredit gewährt worden, zu den horrenden Zinssätzen für die Überziehung von Girokonten.

Chaos in der Familie

Über drei Jahre hinweg spitzte sich die Situation zu: "Es brach einfach nacheinander alles weg", erzählt Brigitte Roth, die damals Mitte 40 war. Den Laden musste sie zumachen, weil sie keine neue Ware mehr bekamen.

"Jeden neuen Tag habe ich als graues Monster empfunden, das auf mich wartet. Ich habe den Alltag abgespult wie ein Roboter", sagt Brigitte Roth.

Mit der wirtschaftlichen Katastrophe geht die private einher: Die Ehe zerbricht. "Es herrschte Chaos in der Familie." Als der Gerichtsvollzieher klingelt und das Haus nach "werthaltigen" Gegenständen durchgeht, war Brigitte Roth das "hochnotpeinlich".

Sparverträge für die Kinder, Ausbildungs- und Lebensversicherungen - alles wird liquidiert. Als besonders schlimm erlebt sie die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung, den Offenbarungseid: Sie muss nachzählen lassen, wie viel Geld sie im Portemonnaie hatte. "Da habe ich gewusst, ich bin ganz unten angekommen."

"Es bleibt alles auf der Strecke"

Mit Hilfe der Schuldnerberatung geht Brigitte Roth nun ins Verbraucherinsolvenzverfahren. Sechs Jahre lang wird dabei der pfändbare Teil ihres Gehaltes als Verkäuferin von einem Treuhänder an die Gläubiger verteilt.

Zum Leben bleibt Brigitte Roth so viel, wie ein Bezieher von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe zur Verfügung hat. "Wenn alles normal läuft, dann geht es noch, aber wenn die Waschmaschine kaputt ist oder ich eine neue Brille brauche, dann wird es richtig schwierig."

Musikunterricht für die Kinder kann sie nicht mehr finanzieren, auch Nachhilfe ist nicht drin: "Es bleibt alles auf der Strecke." Für Klassenfahrten der Kinder könnte sie zwar einen Zuschuss bekommen, aber die Kinder lehnen das ab: "Sie haben sich furchtbar für unsere Situation geschämt und wollten nicht, dass das an der Schule womöglich bekannt wird."

Erst nach sechs Jahren "Wohlverhalten" unter strengen Auflagen kann Brigitte Roth die Restschuldbefreiung beantragen. Immer mehr Menschen beschreiten diesen Weg zu diesem wirtschaftlichen Neuanfang: Gab es bei den deutschen Amtsgerichten im Jahr 2004 erst knapp 50000 Insolvenzverfahren, so waren es ein Jahr später schon fast 69.000.

Die Zuwachsrate in den ersten Monaten dieses Jahres liegt bei etwa 40 Prozent, am Ende wird die Jahresstatistik wohl um die 100.000 ausweisen, beschreibt Hofmeister den Trend.

Auch Hedwig Stein (Name geändert) hatte sich von ihrem Ex-Ehemann, der gewalttätig wurde, dazu drängen lassen, einen Kredit über 25.000 Euro aufzunehmen. Das Geld hat er verzockt.

"Frauen unterschreiben für Männer"

Verzweifelt hat die 30-Jährige versucht, nach der Trennung von ihrem Mann ihren Ratenverpflichtungen allein nachzukommen. Geschichten wie diese kennt Heidrun Greß von der Schuldnerberatung Frankfurt-Ost nur zu gut: "Frauen unterschreiben für ihre Männer, irgendwann sind die Kerle dann weg und zahlen nicht."

Reif für die Psychiatrie

Hedwig Stein versuchte tapfer, die Schulden abzuarbeiten, obwohl von ihrem Monatslohn bei einem Lebensmitteldiscounter in Offenbach meist nur noch fünf oder zehn Euro zum Leben blieben, wenn sie die Rate bezahlt hatte.

Sie wusch und bügelte für Kollegen, bekam hier oder dort einmal einen Geldschein. Als sie nicht mehr weiterwusste, suchte sie die Schuldnerberatung auf. "Da geht es dann erst einmal darum, Katastrophen zu verhindern, wie den Verlust der Wohnung wegen Mietrückständen", erklärt Heidrun Greß.

Schon jetzt lägen die Wartezeiten bei den Beratungsstellen fast überall bei drei bis sechs Monaten, sagt Hofmeister. Trotz steigender Nachfrage sei wegen der Haushaltslage der öffentlichen Kassen mit einem Ausbau nicht zu rechnen.

Der Chef schikaniert

Dabei warnt der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass Betroffene ohne Hilfe noch tiefer in die Überschuldungsspirale geraten: Der Schuldenberg wird immer größer. Arbeitsplatz- und Wohnungsverlust drohten, darüber hinaus komme es zur "psychosozialen Destabilisierung" der in Armut lebenden Schuldner.

Als der Chef von Hedwig Stein durch die Gehaltspfändung von ihrer Situation erfuhr, begann er damit, ihr das Leben mit Kontrollen und immer neuen Schikanen zur Hölle zu machen.

Nicht einmal nach einem leichten Herzinfarkt gönnte sie sich Ruhe, aus Angst um ihren Arbeitsplatz. "Wenn das so weitergeht, bin ich bald reif für die Psychiatrie."

© SZ vom 2.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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