Bahnreisen:In einem Zug

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Die deutsche Bahn hält Verspätungen und Zumutungen bereit - großartig ist sie trotzdem.

Stefan Klein

Neulich im Zug. Auf dem Weg von Süden nach Norden. In Kassel war ich umgestiegen, dann hatte ich mich in ein spannendes Buch vertieft und alles um mich herum vergessen. Als ich das erste Mal aufblickte, stand der Zug an einem Bahnsteig, und auf dem Ortsschild stand Stadt Allendorf.

Saubere Bahnwagen mit sauberen Panoramafenstern (Foto: Foto: ap)

Ich kannte das Schild, ich kannte den Bahnhof, und ich wusste auch, dass die nächste Station Kirchhain heißen würde. Man denkt ja immer, wenn man älter wird und sich verändert, dass alles andere sich auch verändert haben müsste, aber das ist ein Irrtum. Der Bahnhof von Stadt Allendorf, so jedenfalls wirkte es aus dem Zugfenster, war stehengeblieben auf dem Stand der sechziger Jahre, und der in Kirchhain genauso.

Es sind dies die beiden Bahnhöfe, die mir vertrauter sind als alle anderen, denn zwischen beiden bin ich jahrelang gependelt als Fahrschüler zwischen meinem Wohnort Stadt Allendorf und meinem Schulort Kirchhain.

Kurzstrecke wurde länger

Als ich in die Tanzstunde ging, wurde die Kurzstrecke ein bisschen länger. Da ging es dann über Kirchhain hinaus, erst kam Anzefahr, dann Bürgeln, dann Cölbe, ABC, so prägte ich mir die Reihenfolge ein, und schließlich kam die große Stadt Marburg. Da war die "Tanzschule Drubig".

So lange ich zurückdenken kann, bin ich Bahn gefahren. Schon als Kind. Weihnachten fuhren wir zu den Großeltern nach Hamm/Westfalen, im Sommer meistens in die Schweiz, und weil das eine so lange Reise war, durfte ich mir beim Zwischenhalt am Frankfurter Hauptbahnhof ausnahmsweise "ein Heftchen" kaufen, wie meine Mutter das nannte. Micky Maus oder Fix und Foxi. Sonst waren die tabu.

Ich rannte dann alleine los zum Zeitungsstand und hatte immer ein bisschen Angst, dass ich die Abfahrt des Zuges verpassen könnte, aber ich verpasste ihn nie. Das Verpassen kam erst später als Schüler.

Vielleicht ist es die Gewohnheit, die in langen Jahren gewachsene Vertrautheit, vielleicht ist es die Tatsache, dass ich als Kind keine elektrische Eisenbahn hatte - ich fahre für mein Leben gern Zug. Ich mochte die Dampfloks, die damals schnaufend und prustend in Kirchhain hielten.

Großartiges Eisenbahnsystem

Ich liebte den Nachtzug, der uns von den Höhen Nairobis herunterfuhr an den Indischen Ozean. Ich lauschte glücklich dem taramtam, taramtam, als der Zug sich in Vietnam über steile Klippen zum Wolkenpass hinaufwand. Ich bekenne mich als Schwärmer, und insofern fehlt mir vermutlich die Unvoreingenommenheit und die richterliche Objektivität für das Urteil, das ich gleich fällen werde.

Vorauszuschicken ist noch, dass ich mit dem deutschen Bahnchef Hartmut Mehdorn weder verwandt noch befreundet oder auch nur bekannt bin. Vorstandsmitglied Otto Wiesheu ist zwar erfreulicherweise vom Auto auf die Bahn umgestiegen, näher kennen möchte man den Herrn trotzdem nicht.

Das Urteil: Nirgendwo in der Welt gibt es ein so großartiges Eisenbahnsystem wie in Deutschland. Sehr gewagt, ich weiß, und noch nicht mal in meiner eigenen Familie würde ich damit auf ungeteilte Zustimmung stoßen.

Meine Mutter lässt keine Gelegenheit aus, ihrem Sohn von den neuesten Fehlleistungen der Bahn zu berichten, sei es, dass sie persönlich Opfer derselben wurde, sei es, dass sie darüber in der Zeitung gelesen hat. Und als ich jüngst beim ehemaligen SZ-Chefredakteur Gernot Sittner zu Gast war und vorsichtig von meinem Plan erzählte, der deutschen Bahn mittels eines Beitrags für das SZ Wochenende ein großes Lob auszusprechen, da war es, als hätte ich eine Lawine losgetreten.

Auto? Vergiss es

Der Rest des Abends war prall gefüllt mit unvorteilhaften Geschichten über die Bahn, über Pannen, Verspätungen und andere Zumutungen. Wird alles so sein, und trotzdem bin ich überzeugt, dass man sich in Deutschland entspannt, komfortabel und einigermaßen pünktlich nur mit der Bahn bewegen kann.

Wer sollte mit ihr konkurrieren? Das Auto, das zwischen Stuttgart und Karlsruhe hilflos im Stau steckt? Das Flugzeug, in dessen Innerem die Passagiere genervt auf den sich immer weiter verzögernden Start warten? November 2005: Ich habe einen Termin in Bremerhaven um 14 Uhr, und ich muss anschließend weiter nach Sylt. Alles an einem Tag.

Auto? Vergiss es. Selbst wenn du glatt durchkommst von Bayern bis ans Meer, selbst wenn du es tatsächlich pünktlich bis zum Termin schaffst, du wärst dann nicht mehr interviewfähig. Flugzeug? Mit der S-Bahn zum Münchner Flughafen, von dort zum Flughafen Hamburg, von dort in die Innenstadt zum Bahnhof, dann in den Zug nach Bremerhaven, ein dauerndes Gewechsle, und wenn das Flugzeug Verspätung hat, bis du umsonst gereist.

Mt der Bahn ist es so: Abreise in München um 6:54 Uhr. In Bremen, wo ich umsteigen muss, hat der Zug ein paar Minuten Verspätung, aber den Anschlusszug nach Bremerhaven schaffe ich ohne Hetze. Ankunft in Bremerhaven pünktlich um 13:31 Uhr. Mit dem Taxi fahre ich zum Termin und nach anderthalb Stunden zurück zum Bahnhof. Um 16:28 Uhr geht es weiter, über Bremen und Hamburg-Altona.

Als der Zug in Westerland eintrifft, zeigt die Uhr genau die Zeit an, die man mir vor der Abreise ausgedruckt hat: 21:36 Uhr. Ein langer Dienstreisetag, aber ein sehr bequemer. Zwischen München und Bremen saß ich im Speisewagen, trank Tee, aß Nürnberger Rostbratwürstchen und bereitete mich auf mein Interview vor. Der Kellner war freundlich und fragte ein ums andere Mal, ob alles zu meiner Zufriedenheit sei. Das war es.

Ausnahme, würde meine Mutter sagen, und sie könnte sich sogar berufen auf den jüngst bekannt gewordenen Bericht, demzufolge sich die Verspätungen bei der Bahn häufen, und wer wollte zweifeln an einem Dokument, das die Bahn selber verfasst hat? November dieses Jahres, Frankfurter Hauptbahnhof.

Ich könnte mich begeistern über diese wunderschöne Bahnhofshalle, aber ich will mich stattdessen an die nüchternen Fakten halten, und die sind dergestalt, dass der ICE nach München fünf Minuten zu spät abfährt. Eigentlich ist das, nach den Maßstäben der Bahn, noch keine Verspätung, aber pünktlich ist es auch nicht.

Der Pünktlichkeit hinterherfahren

Ich setze mich in den Speisewagen, wo über den Lautsprecher die Verspätung erklärt und entschuldigt wird. Wie zum Trost werden warme Brezn in Aussicht gestellt. In Mannheim meldet sich der Lautsprecher wieder: Leider habe man immer noch Verspätung, etwa vier Minuten.

So geht das weiter, an jeder Haltestelle Bedauern darüber, dass man der Pünktlichkeit ein kleines Stück hinterherfährt. In Stuttgart sind es noch drei Minuten. In Ulm "noch wenige Minuten", trotzdem würden "alle Anschlusszüge erreicht". Auch in München-Pasing ist der Rückstand noch nicht aufgeholt, aber wiederum: "Alle Anschlüsse werden erreicht."

Wer viel fliegt, weiß, wie es in vergleichbaren Situationen im Flugzeug zugeht. Da meldet sich irgendwann die tiefe Stimme des Kapitäns, die etwas murmelt von Gepäckstücken, die noch zu verladen seien oder von Passagieren, auf die man noch warten müsse, vielleicht kommt die Mitteilung entschuldigend daher, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall: Bleiben Sie angeschnallt sitzen und lassen Sie Ihre Mobiltelefone ausgeschaltet.

Die Lämmer in der Kabine, statt dass sie ein Wutgeheul anstimmen oder sich lauthals das Maul zerreißen über derartige Zumutungen, tun brav wie geheißen. Denn Fliegen kommt von weltläufig, und wer weltläufig ist, wird sich über ein paar Minuten nicht aufregen. Nur auf der Bahn hacken sie alle herum.

Noch fährt das Bähnchen

Meine Mutter muss ich freilich in Schutz nehmen. Die wohnt in einem sehr abgelegenen Ort, der bahnmäßig gesehen an einem seidenen Faden hängt. Es gibt nur eine Stichstrecke, und die ist seit vielen, vielen Jahren von der Stilllegung bedroht. Schon mein Großvater hat deswegen besorgte Leserbriefe an die Ortszeitung geschickt.

Eine solche Bedrohung prägt und schafft nicht unbedingt Sympathien für den Bedroher. Noch fährt das Bähnchen, aber den sehr schönen, alten Bahnhof haben sie unlängst stillgelegt. Die Schalterhalle mit dem Schalter und dem Schild "Fahrausweise" staubt still vor sich hin, und die ersten Scheiben wurden auch schon eingeschlagen.

Unlängst war ich wieder mal da, und als ich abfuhr, was soll ich sagen, da hatte der Triebwagen acht Minuten Verspätung. Acht Minuten! Das ist auch nach den Maßstäben der Bahn eine Verspätung. Meine Mutter war nicht weiter erstaunt, als ich's ihr später erzählte. Sie traut der Bahn alles zu. Alles - oder besser: wenig.

Vielleicht muss man eine Zeitlang im Ausland gelebt haben, um die deutsche Bahn wirklich zu schätzen. Nicht, dass ich jetzt die "Indian Railways" als Maßstab heranziehen wollte. Ich habe die 36 Stunden im "Gitanjali Express" quer über den Subkontinent von Bombay nach Kalkutta zwar genossen, aber wenn ich etwas sehen wollte von der Landschaft, musste ich mich an die offene Tür stellen. Das Abteilfenster war eine trübe, gegen Putzen und Wischen immune Mattscheibe.

Blitzsaub

eres Panoramafenster

Als ich dagegen kürzlich von Mannheim nach Köln fuhr, da hatte ich dank eines blitzsauberen Panoramafensters den von einer milden Herbstsonne beschienenen Rhein mit seinen Weinbergen und Burgen vor mir und dachte: Viel schöner kann es nicht sein (von der Strecke am Wolkenpass einmal abgesehen).

Wer sich an Deutschland erfreuen will, an seinen gelben Rapsfeldern im Sommer, an seinen wattigen Nebelbänken im Winter, an einem Morgenrot vor Stralsund, der kann das kaum irgendwo besser tun als an einem Fenster der Bahn.

Nach Asien lebte ich in England. Eines meiner ersten Missverständnisse war, als ich im Londoner Bahnhof Waterloo nach den Tafeln mit den Abfahrtszeiten suchte, weil ich ja die Nummer des Bahnsteigs wissen musste.

So hatte ich es aus Deutschland in Erinnerung. Gelbe Tafeln, links die Uhrzeit, rechts das Gleis. Gibt es in England nicht. Da haben die Bahnhöfe nur diese Zuganzeiger, die einen erst kurz vor der Abfahrt wissen lassen, auf welchem Gleis der Zug einfahren wird.

In den Stoßzeiten ballen sich da die Menschen, stieren darauf, und wenn es so weit ist, stürzen sie wie die Lemminge los in Richtung Bahnsteig. Mein Lieblingszug war der, dessen Türen lediglich außen Griffe hatten. Von innen waren die nur dadurch zu öffnen, dass man das Fenster öffnete, nach draußen langte und den Griff herunterdrückte. Und die Pünktlichkeit war ein Witz.

Buchstäblich ein Witz. Ich schnitt mir die besten Bahn-Cartoons aus den Zeitungen aus und klebte sie in meinem Büro ans Regal, das half der gequälten Seele. Gerne mochte ich den Cartoon, der zwei Passagiere im Zug zeigt, der eine, ein Bischof mit entsprechender Mütze und Hirtenstab, wie er sich an seinen Mitreisenden mit den Worten wendet: "Als ich losfuhr, war ich noch Hilfspfarrer."

"Diese Schienentechnik! Gigantisch!"

Inzwischen soll sich einiges gebessert haben, modernere Züge, mehr Pünktlichkeit, an deutsche Verhältnisse wird man trotzdem noch lange nicht herankommen. Allein "diese Schienentechnik! Meine Güte! Gigantisch!" Wer das sagte? Vielleicht muss man tatsächlich eine Zeitlang im Ausland gelebt haben, um die deutsche Bahn zu schätzen.

Es war eine gewisse Angela Merkel, DDR-Bürgerin auf Westreise, die vom IC-Erlebnis schwärmte und sich über junge Leute empörte, die sich in den Abteilen fläzten, Schuhe auf den Sitzen: "Ungeheuerlich, der schöne Zug!"

Schöne Züge, wohl wahr: Elegant, bequem, geräuscharm, die Klos haben ihren früheren Schrecken verloren, und für die Raucher wird es erfreulicherweise immer enger. Sogar aus dem Bord Bistro hat man sie vertrieben. Ich erinnere mich an eine Zugfahrt von Dortmund nach Neumünster, ich wollte etwas essen, aber es gab keinen Speisewagen, sondern nur das Bistro. Da saßen sie, die Qualmer, und der Appetit konnte einem vergehen.

Die Schaffnerin sah es mir offenbar an und gab mir, dem 2. Klasse-Passagier, einen Platz im benachbarten 1. Klasse-Abteil. Für Fahrkarten muss man sich nicht mehr anstellen, man bekommt sie anstandslos im Zug, sogar mit Kreditkarte. Selbst die telefonische Zugauskunft, früher praktisch unerreichbar und von abschreckender Unfreundlichkeit, ist inzwischen nur mehr ein kurzes Klingeln entfernt. In der Servicewüste Deutschland ist die Bahn eine erfreuliche Ausnahme.

Kein Haltewunsch verspürt

Seit meiner Rückkehr nach Deutschland vor anderthalb Jahren bin ich immer wieder Zug gefahren, kreuz und quer durchs Land. Ich habe in schnittigen ICEs gesessen und in bummelnden Triebwagen. Die Lautsprecher haben mir zweisprachig erklärt, wo welcher Anschlusszug auf mich wartet, oder sie haben mir, wenn es eine kleine Nebenstrecke war, mitgeteilt, dass demnächst ein "Bedarfshalt" kommt und dass ich, falls ich dort aussteigen will, "die Haltewunschtaste betätigen" muss.

Ich gestehe, dass ich kein einziges Mal einen Haltewunsch verspürt habe, sondern froh war, wenn es zügig weiterging, meinem Ziel entgegen. Ich habe nach jeder Reise ein kleines Gedächtnisprotokoll angefertigt, und diese Papiere habe ich jetzt, vor dem Schreiben dieser Geschichte, noch einmal durchgelesen.

Es hat Verspätungen gegeben, immer wieder, einmal stand ich wartend auf einem zugigen Bahnsteig in Wolfsburg, und keiner fühlte sich bemüßigt, die Verspätung auch nur anzusagen, aber: Kein Anschluss wurde verpasst, zu keinem Termin kam ich zu spät.

Ein wirkliches Ärgernis ereignete sich nur einmal. Das war im Mai dieses Jahres auf der Fahrt von Berlin-Zoo nach München. Genau genommen waren es sogar zwei Ärgernisse, denn erst stellte sich heraus, dass es im Speisewagen nichts zu essen gab, weil die Kühlanlage ausgefallen und sowohl die "herzhafte Gulaschsuppe" als auch die "Rinderroulade Hausfrauen Art" verdorben war.

"A problem with the train?"

Unangenehmer aber war, dass es kurz vor München-Pasing, also wenige Kilometer vor der Endstation, plötzlich nicht mehr weiterging. Es war zehn Minuten nach eins, ich war müde und wollte ins Bett, aber der Zug stand auf freier Strecke, und der Lautsprecher machte wenig Hoffnung auf baldige Weiterfahrt.

"Is there a problem with the train?" fragte ein indischer Mitreisender. Ja, sagte ich und dachte an die indischen Züge, mit denen ich gefahren war. Da war fast immer irgendein Problem. "Es gibt doch noch gute Nachrichten." So meldete sich der Lautsprecher um zwanzig Minuten vor zwei, und kurz danach setzte sich der Zug in Bewegung.

Beim Aussteigen am Münchner Hauptbahnhof sagte der Inder seufzend: "In Germany they don't have trolleys, that's painful" - keine Gepäckwagen auf deutschen Bahnhöfen, das sei schlimm. Was diesen Punkt betrifft, so ist uns der indische Bahnbetrieb tatsächlich überlegen. Doch sonst? Die Bahn ist teuer, und sie wird sogar noch teurer. Ihr oberster Chef mag ein Architekturbanause sein, und die Entscheidung, ausgerechnet das Trikot des Luschenvereins Hertha BSC als Werbefläche zu benutzen, kann nur am Ende eines langen Betriebsausflugs gefallen sein.

Aber all das ändert nichts an meinem Urteil: Die deutsche Bahn ist toll.

© SZ vom 16.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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