Anklage wegen Totschlags:Ein Kind, nach dem niemand fragte

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In Cottbus steht ein Elternpaar vor Gericht, das seinen Sohn vermutlich verhungern ließ und die Leiche dann in eine Kühltruhe steckte.

Marcus Jauer

Angelika B. sitzt im Landgericht Cottbus und zählt die Kinder auf, die sie geboren hat. Das erste nannte sie Silvana, das war 1981, da war sie zwanzig Jahre alt, der Vater blieb nicht lange bei ihr. Dann kamen Norman 1984, Marcel 1985 und Frank 1986. Mit deren Vater war sie neun Jahre zusammen, bis er zur Wende die Arbeit verlor und zu trinken anfing.

Dann lernte sie Falk B. kennen, der neben ihr auf der Anklagebank sitzt. Von ihm bekam sie 1992 Nicole, 1993 Rinaldo, 1995 Dennis, 1996 Benny, 1997 Carolin, 1998 Felix und 1999 Cindy. Elf Kinder hat Angelika B. in ihrem Leben zur Welt gebracht, drei gab sie zur Adoption frei, acht wollte sie groß ziehen. Mit sieben hat sie es auch geschafft.

Im Juni 2004 entdeckten Polizisten in der Wohnung der Familie B., die in einer Cottbusser Plattenbausiedlung lebte, ein totes Kind. Es war einen Meter groß, wog aber nur 2,5 Kilogramm, es habe ausgesehen "wie ein Vögelchen", sagte ein Polizist später.

In der Kühltruhe

Es lag in der Kühltruhe, die in der Küche stand und seit einiger Zeit nicht funktionierte, weshalb sie mit einem Tuch abgedeckt und als Tisch benutzt wurde. Am Morgen kam die Familie hier zum Frühstück zusammen, während eines ihrer Mitglieder in der Truhe lag. Dennis. Er wurde sechs Jahre alt.

Seit Donnerstag sind Falk und Angelika B. des Totschlags angeklagt und des Missbrauchs Schutzbefohlener. Stimmt es, was der Staatsanwalt ermittelt hat, dann hat ihr Kind Dennis nur die ersten drei Jahre seines Lebens ohne Schläge und Hunger verbracht.

Hassgefühle

Danach fühlte sich die Mutter durch ihn gestört, sie habe, so die Anklage, "Hassgefühle" gegen ihn entwickelt, ihn oft tagelang mit dem Gürtel seines Bademantels ans Bett gefesselt und kaum zu Essen und zu Trinken gegeben. Am Ende war er so schwach, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.

In den ersten Vernehmungen durch die Polizei sagte Angelika B. aus, eines Morgens sei Dennis tot gewesen, sie habe ihn erst im Bettkasten und später in der Truhe versteckt, sie habe nicht gewusst, wohin sonst.

Niemand hat gesucht

Die Gerichtsmediziner errechneten, dass dies im Frühsommer 2001 gewesen sein musste, drei Jahre bevor man die Leiche fand. In dieser Zeit haben weder Sozialamt und Jugendamt, die die Familie betreuten, noch das Schulamt, das zwei Mal vergeblich versuchte, den Jungen einzuschulen, nach Dennis gesucht.

Alle gaben sich damit zufrieden, dass er angeblich wegen Diabetes in einem Berliner Krankenhaus liege. So hatte es Angelika B. immer wieder erzählt, und so will es ihr Mann ihr auch geglaubt haben.

Beide sitzen auf der Anklagebank nebeneinander. Eine kleine Frau Mitte vierzig und ein kräftiger Mann Ende dreißig. Sie sind auf freiem Fuß, die drei älteren Kinder wohnen noch bei ihnen, die jüngeren sind im Heim, aber sie besuchen sie fast täglich.

Noch in der alten Wohnung

Manchmal dürfen Falk und Angelika B. sie mit nach Hause nehmen, sie haben noch die alte Wohnung, und es sieht nicht so aus, als habe das, was darin geschehen ist, etwas an ihrem Verhältnis geändert. Als Falk B. sagen soll, wie viele Jahre sie verheiratet sind, schaut er zu seiner Frau, sie zeigt ihm sieben Finger, er sagt: "sieben". Da lächelt sie.

Das Leben, von dem beide erzählen, beginnt in Elternhäusern, in denen geschlagen wurde oder getrunken. Angelika B., deren Vater in der DDR in einem Gefängnis arbeitete, auf dessen Gelände sie aufwuchs, riss häufig von Zuhause aus, ging nicht zur Lehre, trank und wurde wegen "asozialen Verhaltens" eingesperrt; ihre Familie brach darauf den Kontakt zu ihr ab.

Jugendgefängnis

Falk B. floh ebenfalls vor seinem Vater, der ihn prügelte, bis er alt genug war, zurückschlug und in ein Jugendgefängnis kam. Als beide sich 1990 kennen lernten, teilten sie immerhin schon diese Erfahrung. Vielleicht dachten sie, sie könnten einander einen Halt geben.

Doch die ersten beiden Kinder, die Angelika B. mit ihrem neuen Mann bekam, gab sie zur Adoption frei, sie fühlte sich überfordert, wollte nicht noch ein Kind und bekam doch schon kurz darauf Dennis. Er war erst wenige Monate alt, als sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie sprang aus dem Fenster, aber sie überlebte und das Kind, mit dem sie bereits wieder schwanger war, überlebte auch. Es wurde ihr achtes, nicht ihr letztes.

Sechs Aktenordner

Sechs Aktenordner füllt Familie B. im Sozial- und Jugendamt von Cottbus. Regelmäßig half ihr ein Betreuer. Dass er eines der Kinder niemals sah, machte ihn drei Jahre lang nicht stutzig. Er kam mit einer Ermahnung davon.

"Es hat ja keiner nach Dennis gefragt", erzählte Angelika B. vor einigen Monaten einer Dokumentarfilmerin. Als sei das ein Grund für das, was passiert ist. Zur nächsten Verhandlung soll der Film gezeigt werden. Dann wollen die Eltern aussagen.

© SZ vom 28.10.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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