Amoklauf:Eine Blutspur, die immer länger wird

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Messerstiche, mindestens 35 Opfer und die Furcht vor Aids - der Schock sitzt tief nach dem Amoklauf eines 16-Jährigen im Berliner Regierungsviertel. Der Täter kann sich an nichts erinnern.

Marcus Jauer

Der Weg beginnt am neuen Hauptbahnhof, neben der Bühne, die auf seinem Vorplatz aufgebaut ist, zwischen den Bierständen und Würstchenbuden hindurch Richtung Spree. Über eine Brücke und eine Wiese hinüber zur riesigen Arena, einer Kopie des Olympiastadions, die gerade vor dem Reichstag errichtet wird und in der bald zehntausend Leute sitzen und die Spiele der WM auf Monitoren sehen werden.

Absperrung nach der Bluttat: Im Berliner Regierungsviertel stach der 16-Jährige 35 Menschen nieder. (Foto: Foto: ddp)

Dann weiter, nach links, an den neuen Parlamentsbauten vorbei, entlang der Spree bis zur Wilhelmstraße, über die Brücke und auf der anderen Seite des Flusses zurück. Den neuen Bahnhof immer vor Augen.

Am Samstagmorgen, als der Regen aufhört und mit der Sonne die Menschen zurückkehren, ist der Weg ein Spaziergang. Stunden zuvor, als ihn Mike P. nahm, ein 16-Jähriger mit einem Messer in der Hand, war es ein Amoklauf.

Der erste Notruf ging Freitagnacht um halb zwölf ein. Vor dem Reichstag sei eine Frau angegriffen und verletzt worden, hieß es. Zu dem Zeitpunkt waren im Regierungsviertel Hunderttausende unterwegs, gekommen zur Eröffnung des neuen Bahnhofs.

"Massenanfall von Verletzten"

Sie hatten ein Feuerwerk gesehen, einen Blick in die gläserne Kathedrale geworfen und liefen nun nach Hause. Die nächsten Notrufe, es werden immer mehr, kommen von der Wilhelmstraße, die Feuerwehr löst daraufhin den "MANV-Alarm" aus, Massenanfall von Verletzten heißt das, doch die Rettungswagen haben es schwer, zu den Verletzten zu kommen, die Menschen laufen ihnen entgegen oder schauen noch immer den hell erleuchteten Bahnhof an.

Kurz nach dem ersten Notruf beobachtet der Angestellte einer privaten Sicherheitsfirma einen Jugendlichen, der einer Frau in den Bauch boxt. Er hält ihn fest, lässt ihn wieder gehen, folgt ihm dann aber doch und lotst über Handy die Polizei zu ihm, die ihn schließlich festnehmen kann. Einen mittelgroßen Jungen, fast ganz in Weiß gekleidet, er ist so betrunken, dass er sich kaum wehrt.

Nur etwa 15 Minuten hatte der Gewaltlauf des Mike P. gedauert. Mit dem Messer in der Hand war er zwischen den Menschen durchgelaufen und hatte wahllos auf sie eingestochen, von hinten, von der Seite, als er sie überholte.

Er kann sich nicht erinnern

Viele haben das nur als einen dumpfen Schlag wahrgenommen. Als sie sahen, dass sie bluteten, war Mike P. schon weiter. Mindestens 35 Menschen hat er verletzt, 15 so schwer, dass sie stationär behandelt werden müssen, einigen rettet nur eine Operation das Leben.

Als am Samstag Polizei, Staatsanwaltschaft und der Innensenator die Presse informieren, sieht es noch so aus, als schwebe keiner mehr in Gefahr.

Innensenator Ehrhart Körting sagt, er habe in den sieben Jahren, da er in Berlin Verantwortung trage, solch einen Fall noch nie erlebt. "Eine singuläre Tat", sagt er, "so etwas kann man nicht ausschließen."

Das Sicherheitskonzept für die Fußballweltmeisterschaft, bei der in Berlin Hunderttausende auf der Fanmeile und vor den Großbildschirmen erwartet werden, bleibe unverändert.

Tatvorwurf: Versuchter Mord in 35 Fällen

Die Oberstaatsanwältin Ute Segelitz sagt, sie werde beantragen, Mike P. in Untersuchungshaft zu nehmen, er sei zwar erst 16 Jahre alt, aber der Tatvorwurf wiege schwer - versuchter Mord.

Der Polizeibeamte Klaus Ruckschnat sagt, er habe den Jungen verhört. Er bestreite die Tat und sage außerdem, er könne sich, weil er so betrunken war, nicht mehr an alles erinnern.

Warum Mike P. aber zum Amokläufer wurde, wissen sie alle drei nicht. Es gebe nichts, das darauf hingedeutet habe.

Das Haus, in dem er mit seinem Vater Herbert P. lebt und das nun von Journalisten belagert wird, liegt an der Sonnenallee im Stadtteil Neukölln, dort, wo das Viertel dem weniger ähnelt, was man sich gern darunter vorstellt.

Es ist grün, hinter dem Haus gibt es einen Garten, einen Grill, dahinter liegt eine Pumpstation der Wasserbetriebe. Mike P. hat sechs Geschwister, seit die Eltern sich vor zwei Jahren trennten, wohnt er beim Vater, mit einem jüngeren Bruder, mit dem er angeblich an und ab versuchte, Fahrräder zu stehlen.

"Ich kann mir das nicht erklären"

Nachbarn erzählen, er sei manchmal aufbrausend gewesen. Der Polizei ist er bisher nur aufgefallen, als er jemanden schlug, der ihn beleidigt hatte, und als er ein Fenster seiner Schule einwarf, einer Hauptschule, nicht der Rütli-Schule. Inzwischen bereitet er sich auf einen Beruf vor.

Herbert P., den Reporter der Berliner Morgenpost erreichten, gleich nachdem am Samstag die Polizei das Zimmer seines Sohnes nach Waffen durchsucht, aber nichts gefunden hatte, sagte: "Ich kann mir das nicht erklären." Roland P., ein älterer Bruder, sagte: "Er ist ein gelassener Mensch."

Er mache Musik und schreibe Gedichte für die Freundin, mit der er seit zwei Jahren zusammen sei. Irgend etwas müsse in seinem Bruder passiert sein.

Mike P. war am Freitagabend mit seiner Freundin und einem Freund zum neuen Bahnhof gekommen. Das Messer hatte er da offenbar schon dabei, und obwohl der Vorplatz eingezäunt war, gab es am Einlass keine Taschenkontrollen, und so nahm es ihm keiner der privaten Sicherheitsleute ab. Die Freunde hielten sich anfangs in der Nähe der Bühne auf, Mike P. spielt Bassgitarre in einer Band, und hier gab es Live-Konzerte.

Er muss dann innerhalb kurzer Zeit viel getrunken und einen Mann kennen gelernt haben, dessen Handy ihm gefiel und der kurz darauf mit blutender Nase zur Bühne zurückkam, aber ohne Handy. So hat es Mike P.s Freund Reportern erzählt. Die Gruppe verlor sich, und als seine Freundin ihn am anderen Morgen anrufen wollte, war dann die Polizei am Telefon.

Auf dem Foto, das Zeitungen am Sonntag veröffentlichten, sieht man einen Jungen mit nach oben gekämmten Haaren und offenem Blick. Er hält einen kleinen, schwarzweißen Hund im Arm, einen wie Snoopy, die Comicfigur, die man Freitagnacht auf seiner Unterhose erkennen konnte, als man ihn verhaftete.

Angst vor HIV-Infektion

Einige Stunden nach der Pressekonferenz, Mike P. war inzwischen trotz seines jungen Alters in Untersuchungshaft gebracht worden, gab dann die Polizei bekannt, dass eines seiner ersten Opfer an Aids erkrankt sei.

Es habe anfangs noch unter Schock gestanden und deshalb nicht sofort daran gedacht, dass sich über das blutige Messer auch andere anstecken könnten. So fanden sich am Abend in der Rettungsstelle der Charité Menschen ein, die dachten, sie seien dem Amoklauf entkommen.

Während sie gemeinsam in einem Zimmer saßen, betreut von einem Psychologen, saßen ihre Angehörigen im Schein des Neonlichts im Wartezimmer. Es verging lange Zeit, bis sie ihre Frauen, Männer oder Kinder wieder sahen und die meisten erzählen konnten, dass die Gefahr, sich infiziert zu haben, sehr gering sei.

Als am Samstagmorgen Touristen und Berliner durch das Regierungsviertel spazierten, erinnerte fast nichts mehr an den Amoklauf. Nur, wer suchte, sah noch ein Absperrband der Polizei und vergessene Einweghandschuhe der Sanitäter.

© SZ vom 29.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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