30 Jahre Seveso:Synonym für die Angst vor der Chemie

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Am 10. Juli 1976 ereignete sich einer der schwersten Chemie-Unfälle der europäischen Geschichte - er wurde zum Auslöser für den Kampf um mehr Sicherheit. Umweltschützern sind die Sicherheitsbestimmungen der Industrie jedoch noch heute nicht streng genug.

Wo sich vor 30 Jahren einer der schwersten Chemieunfälle der europäischen Geschichte ereignete, steht heute ein Sportzentrum.

Die vierjährige Alice Senno, aufgenommen am 29. Okt. 1976 in Meda. (Foto: Foto: AP)

Aus dem Schutt der Fabrik, aus der damals die Dioxinwolke aufstieg, hat die Gemeinde vor den Toren Mailands einen Park angelegt. "Bosco delle Querce", Eichenwald, heißt der Park. Das klingt geradezu idyllisch.

Es ist ruhig geworden in Seveso. "Viele Menschen können sich gar nicht mehr vorstellen, was sich damals hier abspielte", meint ein Mitarbeiter der italienischen Umweltorganisation Legambiente. "Vergessen ist das Unglück trotzdem nicht."

Seveso ist zum Synonym geworden - für die Angst vor der Chemie, für die Gefahren des Fortschritts. "Doch es wurde auch zum Auslöser für den Kampf um mehr Sicherheit", sagt Massimiliano Fratter von Legambiente, der "Seveso-Experte" der Organisation. "Seveso wurde zum Schlüsselereignis in der Industriegeschichte."

"Es roch nach Medizin"

Es geschah an einem Samstag. 10. Juli 1976, 12.37 Uhr. In der Chemiefabrik ICMESA sind nur wenige Arbeiter, da platzt ein Sicherheitsventil. Aus dem Reaktor in der Produktionshalle B entweicht eine Gaswolke mit hochgiftigem Dioxin.

"Es roch nach Medizin", meinte ein Augenzeuge später. Erst nach einer Stunde wird das Leck entdeckt. Die Giftwolke verbreitete sich über Seveso, Meda und die Umgebung und verseuchte eine Region mit etwa 100.000 Einwohnern, in 20 Kilometern Entfernung von Mailand.

Schon am nächsten Morgen treten bei mehreren Kindern in Seveso erste Symptome von Hauterkrankungen auf.

Von Beginn an wurde geschlampt, verharmlost. Bäume verloren plötzlich ihre Blätter, Hühner, Kaninchen und Katzen verendeten. Doch die verängstigte Bevölkerung musste sich zunächst mit dem Ratschlag abfinden, sie solle kein Gemüse aus dem Garten esse.

Evakuierung nach 16 Tagen

Erst zehn Tage nach dem Unfall wurde publik, dass die Gaswolke Tetrachlordibenzo-p-Dioxin enthalten hatte - einer der gefährlichsten Gifte für den Menschen. Wie viel genau, weiß man bis heute nicht: Schätzungen schwanken zwischen 300 Gramm und 34 Kilo. Erst 16 Tage nach dem Unglück wurden die ersten Häuser evakuiert.

Die am stärksten betroffene Zone A um das Fabrikgelände wurde später dem Erdboden gleichgemacht.

Zwar starb niemand bei der Chemiekatastrophe, doch 193 Menschen, zum Großteil Kinder, litten in der Folge an Chlorakne, einer schweren Hautkrankheit. 447 weitere Menschen erlitten Hautverätzungen.

Inzwischen gelten sie als geheilt - auch wenn Narben geblieben sind. Der Schweizer Chemiekonzern Hoffmann-La Roche, zu dem die Fabrik ICMESA gehörte, zahlte rund 300 Millionen Franken (heute etwa 197 Millionen Euro) Entschädigung an die Opfer und für die Beseitigung der Schäden.

Belangt wurde für den Chemieunfall allerdings niemand. Zehn Jahre dauerte es, bis das Unglücksareal in Seveso dekontaminiert wurde. Häuser wurden abgerissen und der giftige Schutt in verstärktem Beton vergraben.

Sechs Jahre später ging der giftige Inhalt der Fabrik in Fässern auf eine Reise in die Schweiz, wo er verbrannt werden sollte. Doch die Fässer gingen verloren und es dauerte beinahe ein Jahr, bis sie auf einem ehemaligen Schlachthof in Nordfrankreich wiedergefunden wurden.

"Seveso wurde zum Wendepunkt in Sachen Sicherheit in Europa", sagt Fratter. Der Unfall rüttelte auf, die Politiker setzten sich in Bewegung.

1982 verabschiedete die EU die so genannte Seveso-I-Richtlinie. Da gab es ein neues Moment: Industriebetriebe, die mit bestimmten Mengen an Gefahrstoffen umgehen, müssen Risiken systematisch analysieren und abstellen.

Vier Jahre später verschmutzte ein Feuer in der Sandoz-Fabrik in Basel den Rhein so stark, dass die EU die Richtlinie "Seveso 2" verabschiedete, die sowohl den Umgang als auch die Lagerung von gefährlichen Substanzen regelte.

Danach seien viele Schwachstellen beseitigt worden, meinen Experten. Auch das Unglück im indischen Bhopal, wo 1984 über 2000 Menschen starben, hatte seine Wirkung. Doch "bezeichnenderweise wurden die Bestimmungen in Italien erst 1988 umgesetzt", erläutert Fratter.

2003 wurden die Vorschriften noch einmal verschärft. Die Betreiber von Industrieanlagen wurden unter anderem dazu verpflichtet, Notfallpläne auszuarbeiten.

Doch "damals in Seveso gab es auch schon die technischen Möglichkeiten, einen solchen Unfall zu verhindern. Diese wurden aber aus Kostengründen nicht genutzt", meint Fratter. "Noch heute sind die Sicherheitsbestimmungen nicht streng genug."

Nur Risikomanagement

Auch beschränke sich das EU-Recht auf Risikomanagement, die Produktion der gefährlichen Stoffe werde gar nicht in Frage stellt. Daneben besteht auch das Problem des Giftmülls weiter.

In Italien war das Verschwinden des Seveso-Gifts kein Einzelfall. Im Jahr 2005 lösten sich nach Informationen der Umweltgruppe Legamiente bis zu 400.000 Tonnen giftiger Abfälle quasi in Luft auf. Die Organisation macht die Mafia dafür verantwortlich.

Das Mitte-links-Bündnis von Ministerpräsident Romano Prodi, das im April an die Regierung kam, hat deswegen eine Untersuchungskommission eingesetzt.

Auch in Deutschland fordern Umweltschützer, die Sicherheitsstandards für Industrieanalgen weiter zu verschärfen. Nach dem verheerenden Unglück seien zwar die gesetzlichen Vorgaben erweitert worden. In der Praxis gebe es aber erhebliche Defizite, kritisiert etwa der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland.

Behörden nicht zu wirksamem Kontrollen in der Lage

Hierzulande seien die Behörden personell noch immer nicht in der Lage, die vielen Chemie-Anlagen wirksam zu kontrollieren. Anwohner würden zu wenig aufgeklärt. Inakzeptabel sei auch, dass der Öffentlichkeit aufgrund angeblicher Sicherheitsbedenken die Einsicht in die Liste gefährlicher Betriebe verwehrt werde.

Zudem seien die EU-Sicherheitsstandards für die meisten deutschen Anlagen nicht anwendbar, da sie nur für Betriebe mit sehr hohen Produktionsmengen gefährlicher Chemikalien gälten.

Die BUND-Chemie-Expertin Angelika Horster erklärte: "Immer wieder heißt es bei Unfällen in Industrie-Anlagen, es gebe keine Gefahr für die Nachbarschaft. Oft weiß dann nicht einmal die Feuerwehr, was da brennt oder freigesetzt wurde."

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