Wahlmüdigkeit:Wählen gehen? Nein danke!

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Viele Münchner werden diesmal nicht nur Wahl gehen. Wie stehen Sie dazu? Diskutieren Sie mit.

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Keine klaren Programme, schwindendes Vertrauen - die Gründe, warum Menschen nicht wählen, sind vielfältig. (Foto: Foto: sueddeutsche.de)

Wählen gehen? Nein danke! Warum viele Münchner den Parteien ihre Stimme verweigern wollen. Von Birgit Lutz-Temsch

"Stell dir vor, es ist Wahl, und keiner geht hin", sagt Bernd M. Der Betriebswirt ist einer von wohl um die 150.000 Münchnern, die am 18. September kein Kreuzchen machen werden auf den Bundestags-Wahlzetteln, weder für die einen noch für die anderen.

Und das nicht, weil er keine Lust oder kein Interesse an Politik hätte. Denn den saloppen Spruch zu Anfang meint er gar nicht lustig, sondern fast kämpferisch. "Es heißt zwar so nett Kompetenzteam, aber das sind ja alles nur Wörter", sagt M. - eine wirkliche Qualifizierung für die Herausforderungen des Politikerjobs sieht er bei niemandem, der zur Debatte steht.

"Wir haben einen Pfarrer als Verkehrsminister, Frau Merkel ist Physikerin. Stellen Sie sich vor, Deutschland wäre eine Firma und diese Leute bewerben sich! Ein Unternehmen sucht Mitarbeiter, die Erfahrung in ihrem Beruf und vor allem nachgewiesene Erfolge haben. Wenn man diese Messlatte anlegen würde, fände man unter diesen Kandidaten niemanden."

Nicht immer sei das so gewesen, sagt M., gerade jetzt sei es so krass wie nie, die Wahl sei keine Wahl, weil sich keine Alternativen böten: "Die einen haben keine Erfolge und die anderen haben keine Mannschaft."

Das Vertrauen fehlt immer mehr

So wie M. geht es nicht wenigen. 80,3 Prozent der Münchner Wahlberechtigten haben sich 2002 an der Bundestagswahl beteiligt, von 837.846 Bürgern waren das 673.010. Bleiben 164.836 Menschen in der Stadt, die niemandem ihre Stimme schenkten.

Diese Nichtwähler, so Werner Weidenfeld, Direktor des Münchner Centrums für Angewandte Politikforschung, seien keine homogene Gruppe: Da gebe es zunächst diejenigen, die wie Bernd M. nach jahrelangen Enttäuschungen kein Vertrauen mehr in Politiker haben.

"Wir tendieren zu einer Misstrauensgesellschaft", sagt Weidenfeld. "In früheren Jahrzehnten gab es ein bedeutendes Grundvertrauen in Autoritäten. Heute traut die Mehrheit der Deutschen nicht einmal mehr ihren Nachbarn, geschweige denn den Politikern."

Zudem gebe es aber auch eine ganze Reihe von Menschen, die grundsätzlich nicht am politischen Leben teilnehmen und durch nichts zu einer Wahl zu mobilisieren seien. Andere hätten zwar das Interesse, könnten aber in den Alternativen zur Regierung keine Lösung erkennen und wollten ihre Stimme nicht dem kleineren Übel geben. Im Gegensatz dazu gebe es auch viele zufriedene Menschen, denen die Wahl schlicht zu viel Aufwand sei, und schließlich natürlich die Protest-Nichtwähler.

Den Politikern mal eins auf den Deckel geben

Zu letzteren zählt wohl auch die 31-jährige Betriebswirtin Uta Siebert, die zum ersten Mal nicht wählen wird: "Wenn ich meine Arbeit nicht richtig mache, dann kriege ich von meinem Chef eins auf den Deckel. Die Wähler sind die Chefs der Politiker - und denen muss man mal richtig eine auf den Deckel geben."

Es sei momentan absolut unzulänglich, was die politischen Parteien für ein Bild abgeben, es werde nur noch aufeinander herumgehackt, um Sachthemen gehe es lange nicht mehr. Siebert geht in ihrem Unwillen so weit, dass sie eine Änderung des Wahlsystems vorschlägt: "Funktionieren würde das natürlich nur dann richtig, wenn die Wahl ab einem gewissen Prozentsatz von Nichtwählern ungültig wäre. Damit könnte man den Politikern mal zeigen, was los ist." Ein solches Quorum, eine Mindestbeteiligung, gibt es in Deutschland allerdings nicht.

Aufruf zur Nichtwahl

Mit ihrer Meinung steht Siebert nicht alleine: Mittlerweile gibt es Seiten im Internet, auf denen sich Nichtwähler zu Wort melden, es gibt sogar Initiativen, die dazu aufrufen, nicht zur Wahl zu gehen. "Das ist ein völlig neues Phänomen", sagt Weidenfeld. Ob diese Bewegung allerdings etwas bewirken wird, könne man erst längerfristig beurteilen.

"Das wird maßgeblich vom Organisationsbestand dieser Gruppen abhängen - wie lang ihr Atem ist." Denn schon früher sei zu beobachten gewesen, dass die Politik vordergründig sogar dankbar auf vergleichbare Bewegungen und ihre Anregungen reagiere und sich gesprächsbereit zeige - in Wahrheit aber schlicht darauf warte, bis den betreffenden Gruppen die Luft ausgehe.

Den allgemeinen Rückgang der Wahlbeteiligung seit den siebziger Jahren erklärt Weidenfeld mit den Veränderungen in der demokratischen Kultur Deutschlands. In den Fünfzigern und Sechzigern lagen die Quoten bei bis zu 90 Prozent, 1972 mit 91,1 Prozent sogar darüber. Dem steht mit 1990 der Tiefststand mit 77,8 Prozent gegenüber.

Klare Botschaft erwünscht

"Nach dem zweiten Weltkrieg gab es die Grundhaltung, dass Wählen eine staatsbürgerliche Pflicht ist", sagt Weidenfeld. Hinzu komme der Wandel des programmatischen Angebots und der veränderten Wahlkampfführung. "Früher gab es Themen, die stark polarisierten: Ja oder Nein zu den Ostverträgen zum Beispiel.

Diese Form programmatischer Alternativen und die damit gegebene Dramatisierungsmöglichkeit hat sich deutlich reduziert." Und so sei der jetzige Wahlkampf weitgehend themenlos und ranke sich um Zitate - und mobilisiere deshalb weit weniger.

Damit beschreibt Weidenfeld die Gefühlslage von Roland Maier, der seit zehn Jahren in München lebt und nicht wählen wird: "Was ich bräuchte, ist eine klare Botschaft. Und den Glauben daran, dass diese dann auch umgesetzt wird." Anstelle dieser klaren Botschaft sehe er aber nur nicht endenwollende Diskussionen, Unbeweglichkeit und den mangelnden Willen zur Veränderung.

Warten auf den Wirtschaftsaufschwung

"Die Föderalismusdebatte hat es gezeigt: Die Parteien sind nicht gewillt, wirklich etwas zu ändern. Die hoffen immer noch, dass sich alle Probleme durch einen plötzlichen Wirtschaftsaufschwung lösen werden - aber das sind Rezepte aus der Vergangenheit, das können keine Rezepte mehr für die Zukunft sein."

Die Steuergesetze seien zu kompliziert, die jüngere Generation leide unter mangelnden Zukunftsperspektiven und für ausländische Unternehmen sei Deutschland mit seinen hohen Kosten und der misslichen Stimmung nicht mehr attraktiv. Dies seien die Hauptprobleme, um die sich eine Regierung jetzt kümmern müsse - was er aber von keiner Seite erkennen könne. Langsam mache sich bei ihm Frust breit.

Vom Regen in die Traufe

Frustriert ist auch der 64-jährige Münchner Klaus K., der bisher immer gewählt hat. "Egal wofür ich mich diesmal aber entscheide, ich komme vom Regen in die Traufe, denn keiner hat ein durchdachtes Konzept." Als Beispiel führt er die Jobförderung in den neuen Ländern an: "Da bekommen die jungen Leute für ein Jahr einen Job, weil Vater Staat die Hälfte dazu bezahlt, und nach dem Jahr werden sie postwendend rausgeschmissen - haben die Politiker sich das nicht vorher denken können?

Das sind alles so kurzfristige Ideen, die nichts bringen. Und dann soll ich die wählen?" In vielen Dingen fühle er sich belogen, quer von allen Parteien. "Ich dachte erst, der Kirchhof, der macht endlich mal das Richtige: Er vereinfacht das Steuersystem. Bei genauerem Hinsehen ist es aber wieder nur eine Verlagerung der Steuerlast von oben nach unten."

Magere Botschaften

Was er nicht verstehe, sei das Wehklagen angesichts niedriger Wahlbeteiligungen. "Die Leute gehen nicht wählen, weil sie sich geärgert haben. Aber die Parteien bemühen sich doch auch gar nicht mehr um ihre Wähler."

Diesen Eindruck kann Weidenfeld erklären: Die Wahlkämpfe der Parteien seien gespickt mit Fehlern. "Nehmen wir die CDU: Erst sagen sie wochenlang, sie arbeiten an einem Programm, es darf jedoch nicht darüber geredet werden - ganz schlecht in einer Demokratie.

Dann kommen sie heraus und haben eigentlich nur eine Botschaft: zwei Prozent Mehrwertsteuererhöhung. Das ist kommunikationsstrategisch fatal. Dann gäbe es mit Kirchhof einen Lichtblick, doch der wird erstmal niedergemacht".

Es wird viel gejammert und wenig angepackt

Die Frustration erreicht auch die junge Generation: Erst zum dritten Mal wählen dürfte Götz von Schaumann-Werder. Der 26-Jährige wird von seinem Wahlrecht aber wohl keinen Gebrauch machen. "Ich bin froh, in einem demokratischen Staat zu leben und man sollte die Möglichkeiten, daran mitzuwirken, schon nützen", sagt er. "Ich sehe aber niemanden, der mich richtig vertreten könnte."

Bei den beiden vergangenen Bundestagswahlen sei das anders gewesen, erzählt er. In Deutschland werde zu viel gejammert und zu wenig angepackt, keiner wolle mehr einen eigenen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft leisten, findet der Student, der früher in der Jugendarbeit aktiv war.

Zum grundsätzlichen Wahlverweigerer werde er nicht: "Das ist ein dynamischer Prozess, der sich schnell wieder ändern kann. Vielleicht stehe ich beim nächsten Mal wieder voll hinter einem Programm oder einer Person."

Auch diese Dynamik in der Wahlentscheidung sei ein relativ neues Phänomen, so Weidenfeld. "Früher gab es wesentlich mehr Stammwähler, es wurde mehr aus der gesellschaftlichen Umgebung heraus gewählt. Solche festen Blöcke gibt es heute nicht mehr."

Die kommende Wahlbeteiligung könne sich damit in einer Bandbreite zwischen 55 und 85 Prozent bewegen - "je nachdem, wieviel die Parteien noch mobilisieren können."

© SZ vom 1.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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