Vater, Mutter und Sohn auf der Anklagebank:Geiselnahme im Morgengrauen

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Wie eine türkische Familie darauf reagiert, dass ihre Tochter bei ihrem deutschen Freund einzieht.

Alexander Krug

Der Fall hat viel Staub aufgewirbelt, und mancher fühlte sich zu starken Worten gedrängt. "Wer sich hartnäckig der Integration widersetzt, hat sein Bleiberecht verwirkt", erklärte Bayerns Sozialministerin Christa Stewens im Dezember 2006 apodiktisch. Was war geschehen? Aus Sicht der Ermittler Folgendes: Eine türkische Familie nimmt den deutschen Verlobten ihrer Tochter als Geisel. Die renitente Tochter sollte so dazu gezwungen werden, in den Schoß der Familie zurückzukehren und von ihm abzulassen. Ein klassischer Fall von mangelndem Integrationswillen also?

Fast kein Wort deutsch

Am Münchner Landgericht wird seit Mittwoch der Fall der Familie E. verhandelt. Angeklagt wegen Geiselnahme, Raubes und Körperverletzung sind Vater Muharrem E., 58, Mutter Nimet, 54, und Sohn Mehmet, 27. Alle drei haben noch nie etwas mit dem Gesetz zu tun gehabt. Muharrem E. lebt sei mehr als drei Jahrzehnten in Deutschland und arbeitet als Werkzeugmacher. Sohn Mehmet kam mit sechs Jahren nach München. Er machte die mittlere Reife, bildete sich zum Industriemeister für Lagerwirtschaft fort und fand einen Job bei einem großen Automobilbauer. Mutter Nimet trägt Schleier. Sie war immer Hausfrau und spricht fast kein Wort deutsch.

Der Staatsanwalt hat seine Anklage sachlich gehalten: Danach war die Familie mit der Beziehung von Tochter Erin, 20, und dem gleichaltrigen Bernd S. (beide Namen geändert) nicht einverstanden. Als sie zu ihm in die Wohnung zog und den Kontakt zur Familie abbrach, eskalierte die Situation. Am 13. Dezember 2006 passten sie Bernd S. in aller Frühe vor der Wohnung ab, zerrten ihn mit Gewalt in ihr Auto und fuhren davon. Bernd S. bekam zwei Ohrfeigen und wurde als "Hurensohn", "Wichser" und "Drecksdeutscher" beschimpft. "Gib mir meine Tochter zurück, sonst bringe ich dich um", drohte Vater Muharrem. Die Familie nahm ihm das Handy ab. Erst bei einem Stopp an einer Tankstelle gelang es ihm zu flüchten.

Vater und Sohn lassen zu den Vorwürfen ihre Anwälte Markus Meißner und Marc Duchon sprechen. Man bedauere das "unüberlegte Handeln", heißt es. Die ganze Familie habe aber nur "aus Angst und Sorge" um das Wohl der Tochter gehandelt. Erin sei, wie ihr Verlobter, leicht geistig behindert. Beide hätten in einem Berufsbildungswerk gearbeitet. Nach dem Auszug Erins seien deren Leistungen ständig schlechter geworden, die Familie habe sich Sorgen gemacht. Zumal die Tochter jeden Kontakt zur Familie abgebrochen habe. Man habe die Tat keinesfalls geplant, sondern nur erreichen wollen, "die Tochter zu sehen". Die Schläge und Beleidigungen werden im Übrigen bestritten.

Aus der Familie geflüchtet

Dass die Familie nur aus Sorge gehandelt hat, scheint nach der Aussage des Opfers indes fraglich. Bernd S. hat nämlich bereits die Vorgeschichte ganz anders erlebt. Er und Erin seien mit Anrufen und Besuchen regelrecht terrorisiert worden. Mehmet E. sei öfters in der Berufsschule aufgetaucht, habe ihn auch geschlagen und gedroht, beide umzubringen.

Einmal soll der Bruder auch seine Schwester mit " Fäusten und Füßen" malträtiert haben. Erin sei ganz bewusst aus ihrer Familie geflüchtet, weil sie Angst hatte, in die Türkei geschickt zu werden. Der monatelange Psychoterror der Familie habe ihr stark zugesetzt, manchmal sei sie völlig aufgelöst gewesen. Und am Ende deutet Bernd S. auch noch an, dass es neue Bedrohungen aus Verwandtenkreisen gebe. Das Gericht wird dem nachgehen, der Prozess dauert an.

© SZ vom 26.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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