Tokio Hotel live:Der Tag, an dem Bill kam

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Kreischende Mädchen und 93 Sanitäter-Einsätze: "Tokio Hotel" mit Bill Kaulitz spielte in der Münchner Olympiahalle. Ein Abend mit vier jungen Musikern, die "durch den Monsun" gingen und ein Teenie-Traum wurden.

Hans-Jürgen Jakobs

"Es ist ein Traum aller Mädchen, Bill zu sehen. Und ich werde ihn sehen."

Der Tag, an dem Bill Kaulitz nach München kommt, ist für weibliche Teenager so etwas wie der Tag des Jahres, auch für die zwei Töchter des Reporters. Hunderte warten am Dienstag schon Stunden vor dem Konzert in der Olympiahalle; einige waren in der Nacht zuvor da. Kreisch-Alarm! Und es gibt einige "Versorgungen", wie das die Sanitäter von der Johanniter-Unfallhilfe nennen.

Tokio Hotel sind eine sympathische, ziemlich normale Band, so wie die Vier auf den Plastikstühlen im inneren Trakt der Olympiahalle sitzen. Meistens redet Bill, gelegentlich im Duett mit seinem Bruder Tom. "Wir lieben die großen Städte und hassen die Dörfer", sagt der 17-Jährige auf die Frage nach dem Namen der Gruppe: "Tokio ist eine Stadt, in die wir hinwollen, und Hotels sind der Ort, an dem wir leben."

In den Katakomben der Halle sitzt Bill 90 Minuten vor dem Konzert in einem der kleinen Räume und sagt: "Ich finde das cool, wenn unsere Fans so lange warten. Es ist natürlich traurig, wenn sich jemand unterkühlt hat. Manchmal lassen wir auch Decken und Suppen verteilen."

Bill Kaulitz ist zusammen mit seinem Zwillingsbruder Tom sowie den anderen Gruppenmitgliedern Georg und Gustav die Rockband Tokio Hotel, ein deutsches Phänomen, vor zwei Jahren entstanden in der ostdeutschen Tiefebene bei Magdeburg - und nun, kurz vor dem Erwachsenwerden, noch immer ein kollektiver bundesweiter Mädchentraum.

"Bill, mach mir ein Kind!"

"Wir werden uns niemals trennen, egal, was kommt", wird Bill Kaulitz am Ende dieses Abends in der Konzertarena zu Tom Kaulitz vor geschätzten 6000 Mädchen sowie 600 Müttern und Vätern sagen.

Er wird "München!", "München!" brüllen und ein Plakat im Publikum - "Bill, mach mir ein Kind!" - mit der Frage kommentieren: "Jetzt gleich?" Es gibt auch Four-Letter-Words auf den bemalten Pappkarrees, die die kreischenden Mädchen hochhalten. Eine tanzt im schwarzen BH. Aber es fliegen nicht mehr so viele Kuscheltiere wie früher. Der Sprung muss groß sein für jemanden, der wie die Kaulitz-Geschwister im Kalibergbau-Örtchen Loitsche bei Madgeburg gelebt hat. "Nervös sind wir immer", erzählt Bill, "es gibt mehr Druck als auf unserer letzten Tour. Wir haben das Dreifache an Crew mit."

Sie waren diesmal in Städten wie Wien und Paris und stellten ihre aktuelle CD "Zimmer 483" vor. Beim letzten Mal in München war es noch die kleinere Zenith-Halle, in der Tokio Hotel spielten. Nun rocken sie, wie Shakira oder Pink, im weiten Rund der Olympiahalle, was eine ziemliche Aufgabe sein kann, wenn sie nicht vollbesetzt ist. Tokio Hotel spielt das Programm professionell durch. Eingängige Refrains, prägnante Riffs. Solid Rock. Gänsehaut bei "Durch den Monsun".

Auf die Bühne gehievt

Sänger Bill Kaulitz, dessen androgyne Ausstrahlung oft Thema in den Medien ist, steht den kraftraubenden Part des Frontmanns bravourös durch. Seine Haare sind toupiert wie einst bei Nina Hagen. Er spricht im Klatsch-Kreisch-Gewitter von "echten Fans" und holt bei einem Interrupti eine Birgit aus dem Fan-Volk unter ihm; sie wird von massigen Ordnern auf die Bühne hochgehievt. Und dann singt Birgit mit Bill vom "letzten Tag".

"Das Wichtigste ist, dass ich nicht krank bin, dass wir hier sind und das alles funktioniert", hat Bill Kaulitz vor dem Auftritt gesagt. Der Stern schrieb von "Nirvana für Teenies". Und im Spiegel hat ein sogenannter Pop-Journalist Tokio Hotel tatsächlich mit den Beatles verglichen, was die deutschen "Fab four" stolz gemacht hat und zumindest von der Anzahl der Gruppenmitglieder gesehen stimmt.

Dass Bill & Co. das Gekreische einmal zu viel wird und sie wie die Beatles nur noch im Studio arbeiten, ist indes nicht zu erwarten: "Live macht mehr Spaß als im Studio." Und überhaupt, die Beatles, das sei eine ganz andere Zeit gewesen.

In Jugendzeitschriften und auf Internetseiten ist noch immer alles Mögliche über die gute Live-Band Tokio Hotel zu lesen. Bill Kaulitz amüsiert sich über angebliche Zitate, Gerüchte und Stories wie in einer Publikation namens Hey, wonach Tom jetzt "der King" der Band sei und ihm deshalb per Fotomontage eine Krone aufgesetzt wurde.

"Viele bekommen kein Interview und müssen dennoch etwas schreiben. Dann wird halt etwas erfunden. Man kann nur 50 Prozent davon glauben, was man liest." Schlimm seien die Paparazzi, die selbst im Urlaub den Musikern nachjagten. In Deutschland gehen sie ohnehin immer nur alleine weg, nie zu viert - und dann immer in Verkleidung.

Fehlende Eltern-Aufbewahrung

Beim Konzert hüpfen blonde Acht-Klässlerinnen auf der Tribüne. Mamas tanzen mit, Papas lassen sich fotografieren. Martina sagt, als Bill anfängt zu singen, sie habe ihr Handy nicht aufgeladen, und ihre Mutter schimpft auf der Tribüne: "Du hast es Monate gewusst!" Doch dann hält das Handy durch, und Martina kann viele Fotos machen von den Helden auf der Bühne.

Unten, im Innenraum, weint ein Tokio-Hotel-Fan. "Ich will zurück zu Bill!", schluchzt sie zur verzweifelten Mutter. Die Ordner hatten sie aus der ersten Reihe geborgen, weil sie arg gedrückt wurde und kaum mehr Luft bekam. Schrei, wenn du kannst! In Frankfurt hatten Veranstalter sogar eine Elternbetreuungsstelle eingerichtet für alle Älteren, denen das Treiben zu viel wurde, mit Kaffeetischen und Zeitungen.

In München fehlt so eine Eltern-Aufbewahrung. Wer die Ordner in der Olympiahalle danach fragt, bekommt nur ungläubiges Kopfschütteln als Antwort. Eine Getränkeverkäuferin zeigt lachend auf den flachen Kühl-Sarg hinter ihr: "Das wär' doch was!"

Schon mit neun Jahren hat Bill Kaulitz komponiert. Mit 13 hat er sich, mit wenig Erfolg, bei "Star Search" auf Sat.1 beworben, eine der vielen Castingshows des deutschen Fernsehens. Das sei eine verlorene Wette um ein Mädchen gewesen, erzählt sein Bruder Tom: "Aber es war gut, dass es nicht geklappt hat." Bill sagt, er wäre ohnehin nie im Finale aufgetreten, das sei nicht ernstgemeint gewesen. Er wollte lieber Musik in der Gruppe machen, die damals Devilish hieß.

Für Bill die Schule schwänzen

Das erinnert ein wenig an Max Buskohl, den sie jetzt bei RTLs "Deutschland sucht den Superstar" kurz vor dem Finale entfernt haben, weil der gute Max lieber mit seiner Gruppe auftritt als solo unter Ägide des Senders und des dazugehörigen Medienkonzerns. "Wer ist Max Buskohl?", fragt Bill Kaulitz irritiert. Auf einer solchen Tour bekommt man nichts mit von Kleinigkeiten wie dem Zank bei RTL.

Nach dem Konzert kaufen viele Besucherinnen diesmal die Münchner Abendzeitung. Das Boulevardblatt macht mit der Geschichte auf, dass die Münchner Polizei am Dienstag vor der Olympiahalle Schulschwänzer gejagt habe, die für Bill den Unterricht ausfallen ließen, nur um ihm ganz nah zu sein. "Echt krass", sagt eine der jungen Zeitungskäuferinnen.

"93 Versorgungen (davon sechsmal männlich), zwei Abtransporte in Krankenhäuser", bilanzieren die Johanniter. Der Kreislauf machte nicht mehr mit. In der U-Bahn, auf ihrer Heimfahrt, lassen auffallend viele Mädchen auf ihren Handys noch einmal Bill Kaulitz auf der Bühne erscheinen. Er selbst sitzt zu dieser Zeit mit seiner Band noch beim Essen, und dann geht es weiter mit dem Tour-Bus nach Berlin. Irgendwann wird die Reise vielleicht wirklich nach Tokio führen, in Moskau waren sie schon.

"Das ist jetzt meine Lieblingsband, sie sind besser als Silbermond", sagt die jüngere Tochter nach dem Interview mit Tokio Hotel. Die andere sagt: "Es ist sicher schön, Popstar zu sein - aber auch sehr stressig."

Das also war der Tag, an dem Bill Kaulitz nach München kam.

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