Temur ist gerettet:"Wir haben dieses Kind neu geboren"

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Überglücklich bedankt sich die Mutter bei allen, die geholfen haben, ihren neun Monate lang entführten Sohn zurück nach München zu bringen. Selbst die Polizei hat für die Rettung Geld gesammelt.

Ruth Schneeberger

Neun Monate sind eine lange Zeit. Zeit genug, ein Kind zur Welt zu bringen. Für Temur reichten neun Monate aus, um erwachsen zu werden. Und zwar im Alter von zehn Jahren. "Ich habe nicht das Kind zurück bekommen, das ich kenne. Er ist ein junger Mann geworden", sagt seine Mutter.

Temur, der Leiter der Mordkommission Josef Wilfling (links) und Dr. Reinhard Erös (rechts) am Abend bei der Ankunft auf dem Münchner Flughafen. (Foto: Foto: ddp)

Olesya Kolesnikova strahlt trotzdem überglücklich. Als ob ihr der sprichwörtliche Stein vom Herzen gefallen wäre, spricht sie am Freitag Mittag auf der Pressekonferenz der Polizei in München bereitwillig in die Mikrophone, posiert geduldig mit rotgeränderten aber erleichterten Augen für die Fotografen. "Ich will mich bei allen bedanken, die mir so sehr geholfen haben", übersetzt Nidia Zimmermann ihre russischen Dankesworte. Die Übersetzerin hat der 30-jährigen Ärztin in den letzten Monaten nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten hilfreich zur Seite gestanden. Sie wäre sonst ziemlich alleine gewesen in München.

Im Kofferraum entführt

Was ist passiert? Im November 2006 wurde der neunjährige Temur, als er zum Einkaufen gehen wollte, vor der Wohnungstür entführt - auf Veranlassung seines Vaters, einem 55-jährigen Afghanen mit usbekischer Abstammung und deutscher Staatsangehörigkeit. Die Mutter, eine russische Ärztin, hatte den Mann vor zehn Jahren in Usbekistan kennen gelernt. Sie heirateten und bekamen ein Kind: Temur.

Als der Kaufmann aus bisher ungeklärten Gründen plötzlich aus Usbekistan ausgewiesen wurde (vermutet wird, so Kriminaloberrat Wilfling, er habe islamistische Hasspredigten gehalten), zog er nach München, wo ein Großteil seiner Familie lebte. Darunter zwei geschiedene Ehefrauen und mehrere Kinder. Er wollte nun seine neue Frau dazu bewegen, ihm nach München zu folgen.

Die junge Ärztin allerdings, frisch zur Nierenspezialistin in einem Krankenhaus ausgebildet, wollte in ihrer Heimat bleiben - mit dem Kind. Sich in den fast 200-köpfigen Familien-Clan als eine von drei Ehefrauen einzureihen, kam für sie nicht in Frage.

Also ließ der Vater das Kind entführen, so die Polizei, um seine Frau unter Druck zu setzen - und sie dazu zu bewegen, ihn noch einmal zu heiraten, diesmal nach deutschem Recht, damit die in Usbekistan geschlossene Ehe auch in München gültig ist. Aus Angst um ihr Kind und unter dem Druck der Erpressung ließ sich Olesya Kolesnikova dazu überreden - und heiratete ihren Mann einmal mehr: in Dänemark, was rechtlich einfacher war.

Nun wäre eigentlich der Zeitpunkt gewesen, den im Kofferraum entführten und zwischenzeitlich in die Türkei nach Istanbul verschleppten Jungen zu seiner Mutter zurückbringen. "Aber der Kindsvater stellte weitere Forderungen. Er wollte den Jungen nicht zurückführen", so Wilfling. Da er in München gemeldet ist, musste die Münchner Polizei nun ran.

"Wie ein Fremdkörper"

Mit "verdeckten Ermittlungen", die die Polizei nicht näher beschreiben möchte, machte man sich auf die Suche nach dem entführten Kind. Fand die Spur nach Istanbul - und verlor sie wieder, weil der Junge von Mittelsmännern weiter verschleppt wurde, zu einer Schwester seines Vaters, nach Afghanistan. Dort soll der Junge, so die Polizei, unter schlechten Bedingungen gelebt haben, ohne frisches Wasser und "wie ein Fremdkörper" in der fremden Familie.

Die Zeit drängte - auch weil der Vater inzwischen schwer erkrankt ist. "Wir wussten nicht, was mit dem Jungen passieren würde, wenn der Vater zwischendurch stirbt", so Wilfling. Das Familienoberhaupt schwieg weiter über den Aufenthaltsort seines Sohnes. Die Mutter wurde währenddessen in München fast wahnsinnig vor Angst. Ihre Übersetzerin, die den Kontakt mit Polizei und Behörden ermöglichte, wurde in dieser Zeit zu ihrer Vertrauten, half der Ärztin, sich auch privat in dem für sie fremden Land zurechtzufinden.

Schließlich bat die Polizei einen Dritten um Hilfe: Der Regensburger Arzt Dr. Reinhard Erös, der sich seit seiner Pensionierung als Bundeswehrarzt in einer Privatinitiative um schulische Bildung in Afghanistan kümmert, gilt als Afghanistan-Experte. Nun kam die Sache in Schwung. Mithilfe eines Angehörigen, der sein Schweigen brach, wurde der Aufenthaltsort ausfindig gemacht, Mittelsmänner wurden eingeschaltet - und als der Junge schließlich gefunden war, gab es noch eine Reihe von bürokratischen Hürden zu überwinden. "Man kann nicht einfach einen usbekischen Jungen in Afghanistan in ein Flugzeug setzen und zu seiner Mutter nach Deutschland bringen", erklärt Wilfling.

Das Auswärtige Amt schaltete sich ein, das Bundesministerium für Inneres half aus, Sachbeamter Mike Sattler fuhr Sonderschichten - und die Kollegen halfen spontan mit 5000 Euro, als sie gebraucht wurden. Schließlich landete Temur am Donnerstagabend, kurz nach 21 Uhr, in München.

"Es war erstaunlich, wie der Junge zunächst auf seine Mutter reagiert hat", berichtet Wilfling. Er sei offenbar einer "Gehirnwäsche" unterzogen worden, um ihn gegen seine Mutter aufzuhetzen. Inzwischen aber läuft er schon wieder herum und lacht und alles ist, wie es sein sollte." Nun wird eine Wohnung für Mutter und Sohn gesucht, damit sich die beiden weiter annähern können. "Vielleicht hilft uns jemand dabei", hofft der Kriminaloberrat.

Angesprochen auf die Gefühle für den Vater, der das Chaos verursacht hat, hält sich die Mutter zurück: "Das ist eine schwierige Frage, was ich für ihn empfinde. Ich kann nur sagen: Ein Vater bleibt ein Vater."

Allen anderen danke sie nun von ganzem Herzen für die Rettung ihres Sohnes: "Temur hat nun zwei Geburtstage: den 13. März und den 23. August. Wir haben ihn gemeinsam ein zweites Mal zur Welt gebracht."

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