Tanzbiennale:Brutale Zärtlichkeit

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Ein kanadischer Tanz-Rebell eröffnet das internationale Festival "Dance 2006" in München.

Katja Schneider

Jung, radikal und kein Tabu, das vor ihm sicher ist: Der Ruf von Dave St. Pierre ist denkbar günstig, um für Aufsehen zu sorgen. Nackte auf der Bühne und das Wort "Pornographie" im Titel sind in unserer Zeit ebenso verkaufsfördernde Argumente wie das exzessive, brutal spielerische Hochpeitschen von Gefühlen, das er mit der ganz großen Geste beherrscht.

Schon nach seinem ersten großen Stück, "La pornographie des âmes", das den Münchnern von "Dance 2004" in Erinnerung sein dürfte, sprach man von einem spektakulären Wurf und handelte den Choreographen als Star auf dem Weg zum Welterfolg.

Ein bisschen Zärtlichkeit, verdammt noch mal!

Schmal, blass, müde vom Jetlag und verschnupft saß er im Juli dieses Jahres in der Wohnung von Festivalmacherin Cornelia Albrecht, die sich die Uraufführung gesichert hat. Vier Wochen Arbeit an seinem neuen Werk standen ihm bevor.

Heute wird das Ergebnis "Un peu de tendresse bordel de merde!" ("Ein bisschen Zärtlichkeit, verdammt noch mal!") in der Muffathalle präsentiert (28. und 29. Oktober). Es eröffnet die städtische Tanzbiennale "Dance 2006", die heuer zum zehnten Mal stattfindet.

"In den letzten beiden Jahren ist viel passiert", erzählt Dave St. Pierre, "der Erfolg hier in Europa half mir sehr in meiner Heimat. Er brachte Geld und vor allem Glaubwürdigkeit."

Mit "La pornographie des âmes" gastierte er in Berlin, Salzburg und Amsterdam, er bekam den Frankfurter Mouson-Award und eine Reihe ausgezeichneter Kritiken. Zu Hause in Kanada standen ihm nun die Tore der großen Festivals offen. "Das war ein großer Sprung."

Lange Distanzen scheinen für ihn kein Problem zu sein. Alle zwei Jahre ein Stück, das reiche, meint er. Er sei keine Maschine, die Werke kreiere, auch wenn der Druck jetzt, da Koproduzenten wie etwa "Dance 2006" mit im Boot seien, natürlich zunehme. Geld beschleunigt. Doch drängen lassen will er sich nicht, zumal er großformatig denkt. "Un peu de trendresse bordel de merde!" setzt "La pornographie" fort, beide sollen später zu einem Triptichon erweitert werden.

Im ersten Teil zeigte der Choreograph die dunklen Seiten einer Person: Leute, die mit dem Kopf durch die Wand gehen und dabei auch ihre Mitmenschen nicht schonen. Er brachte Gewalt, Macht, Vereinzelung in hart geschnittenen Szenen auf die Bühne. Das Stück dauerte lang. "Es war wie ein großes Kotzen", sagt Dave St. Pierre sehr sanft.

Lust und Leid der Paarung

Was bedeutet Pornographie für ihn? "Als ich 14 war, kaufte ich mir einen Porno und versteckte ihn vor meinen Eltern. Pornographie ist für mich etwas, was man versteckt." Nicht Nacktheit, nicht Sex, sondern etwas aus dem persönlichen Leben, was man verbergen will. "Dahinter stand die Idee: Hoffentlich sehen sie mich nicht!"

Etwas für sich behalten, nicht zeigen und veräußern zu wollen, dieses Gefühl bleibt, auch wenn die Eltern nicht mehr aufpassen. Sie bei deren Besuch offen herumliegen lassen, das würde man denn doch nicht. "Der Wunsch nach exklusiver Intimität prägt auch unsere Beziehungen."

Warum bleiben manche Paare einen Tag zusammen und andere ein Leben? "Un peu de tendresse bordel del merde!" kreist um Lust und Leid der Paarung, um zärtliche Momente und zarte Bindungen, um schleichende Veränderungen und die Zeit zwischen zwei Beziehungen. Zärtlichkeit als Schlüsselbegriff.

Zum enfant terrible skandalisiert

Dave St. Pierre dekliniert die entsprechenden Fälle durch, spart die Asymmetrien nicht aus und wuchtet die krisenhaften Verwicklungen mit Lust am Trash auf die Bühne. Stationen der Liebe eben. Flüssiger, tänzerischer als "La pornographie" sollen sie sein, weniger theatralisch und, wie oft betont, "zärtlicher", aber um keinen Deut weniger rau. Gerade das betont er: "So bin ich."

Der in Kanada als enfant terrible skandalisierte Künstler steht hier mit seinem jugendlich-rebellischen Pathos für den unverstellten Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse. Stichwort: Selbstentblößung in der Nachmittags-Talkshow. Das haut voll rein in Gemüter, die sonst einerseits auf die Metaebene choreographischer Selbstreflexion, andererseits auf die bündige Formulierung tänzerischen Ornaments konditioniert sind.

Dave St. Pierre zieht eine markante Spur in dem weiten Feld der "Körper Sphären", das Motto von "Dance 2006", das aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und mit vielfältigen künstlerischen Mitteln den Körper und sein Umfeld kommentiert.

Hier lässt sich der Mann aus Montréal verorten neben der Brasilianerin Lia Rodrigues, die für ihr Stück "Incarnat - Fleischwerdung" Susan Sontags Essay "Das Leiden anderer betrachtet" zum Ausgangspunkt nahm, und dem Multikünstler Jan Fabre aus Belgien, dessen Kreaturen die schmerzhafte Transformation ebenfalls nicht fremd ist.

Energie statt Perfektion

Als einziger bei diesem Festival arbeitet Dave St. Pierre wie schon in seinem Vorgängerstück mit einem gemischten Ensemble aus Schauspielern und Tänzern. Er wähle die Akteure nicht, sagt er, "sie kommen und wir arbeiten zusammen". "Ich mache keine Castings. Ich frage, ob sie zu einer Probe kommen wollen, dann können sie ausprobieren, ob ihnen meine Art gefällt." Die Energie ist ihm wichtig, nicht die Perfektion. Schauspieler bewegen sich auf eine andere Art als Tänzer.

"Für mich ist das oft eine neue Art, sich zu bewegen, die auf mich zurückwirkt. Ich denke dadurch neu über Bewegungen nach. Diesen Sommer habe ich bemerkt, dass drei Schauspielerinnen Tanzunterricht genommen haben, weil es ihnen Spaß macht und sie es können wollen. Das ist mir auch recht."

Nur nichts weglassen

In dichten Arbeitsphasen, die von langen Pausen unterbrochen sind, entstehen Szenen aus Gesprächen und Improvisationen, aus dem Experiment. Zunächst reagiert der Choreograph darauf, indem er mit dem arbeitet, was ihm angeboten wird. Wenn nur an einem Abend in der Woche geprobt wird, wie bei "La pornographie", und es allen Beteiligten frei steht, zu kommen oder wegzubleiben, dann funktioniert das nur, wenn für den Verantwortlichen im Moment jeder Beitrag, selbst die Abwesenheit der Performer, wertvoll ist.

Er sammelt, bis er dann die Einzelteile zusammenpuzzelt, instinktiv, Stück für Stück. Weglassen will Dave St. Pierre nichts. "Ich will alles ausprobieren", sagt er, "ich will es machen, auch wenn ich mir später die Haare raufen sollte."

© SZ vom 28.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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