SZ-Serie über das Elend in der Großstadt (2):Wenn die Miete den Lebensunterhalt frisst

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Das Geld reicht oft nur fürs Nötigste: Wer wirklich als arm gilt und warum die Armut in München immer mehr wächst.

Sven Loerzer

Das Lachen hat sie sich schon längst abgewöhnt. Ohnehin gibt es in ihrem Leben kaum Anlass mehr, vergnügt zu sein. Früher, da hat Margarete Roth (Name geändert) gern gelacht. Doch nun mag sie den Mund kaum mehr öffnen.

Auch beim Sprechen ist sie sehr darum bemüht, die zwei Zahnlücken nicht sehen zu lassen. Der 59-Jährigen, seit einem Bandscheibenvorfall erwerbsunfähig, ist der eigene Anblick peinlich.

Der Zahnarzt hat ihr schon gesagt, dass er eigentlich noch weitere Zähne ziehen müsse. Aber lieber hält sie die heftigen Zahnschmerzen weiterhin aus, denn sie weiß nicht, wie sie den teuren Zahnersatz bezahlen soll. Rund 1500 Euro müsste sie für die Gebisssanierung aufbringen. Sehr viel Geld für eine Rentnerin, die mit einer geringen Erwerbsunfähigkeits- und Witwenrente haushalten muss. Zum Leben bleibt ihr nach Abzug von Miete und Nebenkosten kaum mehr als der Sozialhilfesatz von 345 Euro im Monat.

"Noch nie dagewesenes Niveau"

Der verzweifelten Frau hilft nun der "Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung". Nachzahlungen für Heizung und Strom, Ersatz für eine defekte Waschmaschine oder einen kaputten Schrank, eine neue Brille, immer häufiger sind Menschen auf Spenden angewiesen.

Das macht deutlich, wie sich die großen Sozial- und Arbeitsmarktreformen der letzten zwei Jahren auswirken. Eine neue, bisher noch nie derart in Erscheinung getretene, sichtbare Armut ist die Folge dieser Reformen. "Man erkennt die Armut bei den Menschen jetzt wieder an den Zähnen", sagt der Münchner Sozialreferent Friedrich Graffe - eine bittere Erkenntnis für einen SPD-Politiker, dem die Bekämpfung von Armut schon immer wichtig war.

Seit 20 Jahren setzt sich die Stadt mit dem Thema Armut auseinander. Im Jahr 1987 legte der Sozialforscher Rolf Romaus seine im Auftrag des Sozialreferats gefertigte Studie "Neue Armut in München" vor. Die Landeshauptstadt nahm damit die Vorreiterrolle bei den Armutsberichten ein.

Romaus wies zuletzt 13,1 Prozent der Münchner Bevölkerung als arm aus - 177 711 Menschen, mehr als doppelt so viele wie in der ersten Untersuchung. "So ein Befund macht mich nicht fröhlich", sagt Romaus. Nur einmal sei er "high gewesen, weil ich etwas Positives berichten konnte": Im Jahr 2000 meldete Romaus einen leichten Rückgang bei der Armut.

Doch schon 2004 erreichte die Armut ein "noch nie dagewesenes Niveau". Darin spiegelte sich vor allem die hohe Arbeitslosigkeit wider, aber auch die Mietbelastung. Neue Zahlen sollen im Herbst vorliegen.

Als arm gelte, so Romaus, wer für seinen Lebensunterhalt weniger als die Hälfte des nationalen Pro-Kopf-Einkommens zur Verfügung hat. Das sind 776 Euro pro Monat bei einem Alleinstehenden und 465 Euro pro Kopf für Menschen, die in Mehrpersonenhaushalten leben.

Doch Armut, so macht Romaus deutlich, bedeutet nicht nur geringe finanzielle Möglichkeiten, sondern meist ein ganzes Bündel von Problemen aus den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit und Wohnen: "Die glücklichen Armen, die gibt es nicht", meint Romaus.

Arbeitslosigkeit war schon immer die Hauptursache von Armut. Mehr als 52 000 Menschen in München sind auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Nicht alle von ihnen sind Langzeitarbeitslose: Rund 8000 von ihnen arbeiten, bei mehr als der Hälfte der Arbeitenden sind es nicht nur 400-Euro-Jobs.

Dies zeigt, dass das Einkommen im Niedriglohnsektor in einer teuren Stadt wie München nicht zum Leben reicht. Die Menschen, die arbeiten und sich oft schämen, auf Hartz IV angewiesen zu sein, benötigen trotz ihres Lohns "aufstockende Hilfe" vom Staat. "Wir brauchen den Mindestlohn", sagt Romaus, "um den Menschen wenigstens das Existenzminimum zu sichern."

Am stärksten von Armut betroffen sind Kinder im Alter unter 15 Jahren: Rund 19000 Kinder leben in Hartz-IV-Haushalten. Für sie müssen 207 Euro im Monat zum Leben reichen, wenn sie bis 14 Jahre alt sind, darüber gibt es 276 Euro. Mehr als doppelt so viele Kinder, wie eigentlich ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, sind auf die Hartz-IV-Leistungen angewiesen.

Miete frisst Lebensunterhalt

Diese "extreme wirtschaftliche Benachteiligung" ist kein Münchner Phänomen, sondern sei bundesweit zu beobachten, so Romaus. "Da werden Chancen für ein ganzes Leben verbaut", beschreibt der Forscher den Teufelskreis, in dem Armut sozusagen vererbt wird: "Keine gescheite Schulausbildung, kein Beruf, keine Arbeit."

Sorge bereitet Romaus aber auch, dass immer mehr Ausländer von Armut betroffen sind. "Ihr Anteil ist parallel zur Arbeitslosigkeit angestiegen. Inzwischen sind doppelt so viele arbeitslos wie Deutsche." Bei Ausländern sei zudem die Altersarmut viel ausgeprägter als bei Deutschen. "Der Berg kommt da erst noch", sagt Romaus, denn wer wenig verdient habe und länger arbeitslos war, hat auch keine zum Leben ausreichende Rente zu erwarten.

Rund 11 000 Münchner beziehen heute schon "Grundsicherung im Alter", weil sie nicht genug zum Leben haben. Gegenüber dem vorletzten Armutsbericht aus dem Jahr 2000 ist ihre Zahl um rund 90 Prozent angestiegen: Denn die 2003 eingeführte Grundsicherung im Alter hat - anders als beim Antrag auf Sozialhilfe zuvor - nicht mehr zur Folge, dass die Kinder zu Unterhaltszahlungen herangezogen werden.

Damit wird nun das Ausmaß der Altersarmut deutlicher sichtbar, ein Problem das sich durch die Nullrunden bei der Rente wohl weiter verschärfen wird.

Die hohe Mietbelastung in München zehrt häufig einen sehr großen Teil des Einkommens auf, so dass dann kaum genügend für den Lebensunterhalt bleibt. Auch das Wohngeld, das Haushalten mit geringem Einkommen zusteht, führe die betroffenen Haushalte leider nicht aus der Armut, so Romaus.

Der Entlastungseffekt sei unzureichend: So müssten die Haushalte 54 Prozent ihres Nettoeinkommens in die Kaltmiete stecken, den Wohngeldbezug eingerechnet sind es immer noch 42 Prozent - erheblich mehr, als der durchschnittliche Münchner Haushalt anteilmäßig für die Kaltmiete aufbringen muss (31 Prozent).

Den höchsten Anteil an armer Bevölkerung weisen die Stadtviertel Milbertshofen-Am Hart (22,2 Prozent), Ramersdorf-Perlach (22,2 Prozent) und Feldmoching-Hasenbergl (20,9 Prozent) auf. Als Armuts-Insel mitten in relativ wohlhabendem Umfeld ragt die Messestadt Riem (40,5 Prozent) heraus. Dieser Effekt ist darauf zurückzuführen, dass in dem Neubaugebiet zuerst vor allem die Sozialwohnungen entstanden sind.

Dass die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer wird, hat auch die Münchner Bürgerbefragung ergeben, die alle fünf Jahre im Auftrag des Planungsreferats durchgeführt wird. Aus der letzten Befragung im Jahr 2005 geht hervor, dass vor allem Alleinerziehende und Haushalte mit zwei oder mehr Kindern ein Pro-Kopf-Einkommen erzielen, das weit unter dem Durchschnitt liegt.

Immerhin ist das Bewusstsein der Münchner Bürger für die starken Polarisierungstendenzen zwischen Arm und Reich deutlich ausgeprägt: So haben 70 Prozent der befragten Bürger die sozialen Unterschiede in München als zu groß bezeichnet, während es im Jahr 2000 erst 59 Prozent waren. Das könnte auch erklären, warum der SZ-Adventskalender in diesem Jahr mehr Spenden denn je erhalten hat.

"Die Leute schaffen es nicht"

Denn immer mehr Menschen ist inzwischen bewusst, dass die Sozial- und Arbeitsmarktreformen neben dem positiven Effekt, Menschen in Arbeit zu bringen und zumindest zum Teil von Sozialleistungen unabhängig zu machen, auch einen negativen haben: Der Gesetzgeber hat die Leistungen beim Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe pauschaliert. Praktisch alle Einzelleistungen, die es früher bei besonderem Bedarf zusätzlich gab, sind nun mit dem bundesweit einheitlichen Regelsatz in Höhe von 345 Euro abgegolten.

Wer eine neue Waschmaschine braucht, muss dafür "ansparen", genauso wie für den Zahnersatz. "Aus unseren Erfahrungen nach zwei Jahren kann ich nur sagen: Das schaffen die Leute in den meisten Fällen nicht", sagt Graffe. Für kranke, ältere und behinderte Menschen wird jedes defekte Möbelstück, die Erneuerung eines Küchengeräts, eine neue Brille, die Praxisgebühr, Kauf von Medikamenten oder die vom Vermieter geforderte Schönheitsreparatur ein Problem, das sich nur durch Spenden engagierter Bürger lösen lässt.

Weil 345 Euro nicht reichen, wird Graffe nicht müde, eine Erhöhung des Regelsatzes um 20 Prozent auf 410 Euro zu fordern. Er weiß sich dabei der Unterstützung von Stadtrat und OB sicher.

Doch die Berliner Regierung hat gerade erst im letzten Jahr wieder beschlossen, es bei dem Betrag von 345 Euro zu belassen. Für einen Sozialpolitiker wie Graffe aber ist es keine Lösung, wenn Menschen auf Spenden angewiesen sind, um etwa eine defekte Waschmaschine zu ersetzen oder sich das Gebiss richten zu lassen.

Menschen einen Rechtsanspruch auf Existenzsicherung gegeben zu haben statt Almosen, sei eine der wesentlichen Errungenschaften des Sozialstaats: "Ich will keine amerikanischen Verhältnisse, wo die Leute dankbar dafür sein müssen, dass sie eine Suppe bekommen."

© SZ vom 14.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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