SZ- Adventskalender 2004:Leben in einer anderen Welt

Lesezeit: 4 min

Alte und verwirrte Menschen sind völlig auf fremde Hilfe angewiesen - die Betreuer haben es oft schwer.

Von Monika Maier-Albang

In den Nächten streift Emir D. umher. Ruhelos. Ziellos. Als suche er den Weg zurück in die Heimat. Doch er findet nicht einmal den Weg zum Bahnhof. Zum Glück, muss man sagen. Bislang hat ihn seine Frau noch immer abgefangen und nach Hause zurückgebracht. Manchmal sind sie zu Fuß ein, zwei Stunden in der Kälte unterwegs, weil sie kein Geld haben, ein Taxi zu nehmen und die Busse längst nicht mehr fahren.

Daheim, in einer Notunterkunft im Norden der Stadt, lebt das bosnische Ehepaar auf dreizehn Quadratmetern. Der Kühlschrank steht im engen Gang, im Bad kann man sich kaum umdrehen. Kommt Besuch zum Übernachten, zieht Frau D. von der Couch auf den Boden um. Das einzige Bett, das in dem Zimmer Platz hat, belegt ihr Mann, der die Tage inzwischen meist verschläft.

Seit einigen Jahren leidet Emir D. unter Altersdemenz. Er selbst sagt: "Es geht mir gut" und meint damit, dass die Schmerzen in der Brust zur Zeit ein wenig nachgelassen haben. An seine nächtlichen Spaziergänge kann sich der 76-Jährige in der Regel am Morgen nicht erinnern. Seiner Frau bereitet die zunehmende Verwirrtheit des Mannes große Sorgen.

Diagnose: Lungenkrebs

Noch mehr verstörte Iolanda D. allerdings die Diagnose, die ihr die Ärzte im Dezember vor einem Jahr mitteilten. Wegen einer Lungenentzündung war ihr Mann ins Krankenhaus gebracht worden; dort stellte man fest, dass er Lungenkrebs hat. In Bosnien hatte Emir D. als Maurer gearbeitet, war zeitweise im Steinbruch tätig gewesen. "Vielleicht hat das seine Lunge zerstört", vermutet die Tochter.

"Sein ganzes Leben hat er gearbeitet, er hat immer dafür gesorgt, dass es uns an nichts mangelte", sagt die Tochter. In ihren Kindheitserinnerungen sieht sie ihn "ganz stark" vor sich stehen, wie er ihr zur Einschulung die Lackschuhe schenkt. Dann zeigt sie ein Foto vom Haus, in dem die Familie vor dem Krieg wohnte. Die Freunde kamen damals jedes Wochenende zum Essen, "eine schöne Zeit war das", sagt die Mutter. Die Tochter will ihrem Vater helfen, und tut sich so schwer dabei, weil sie selbst zwei Kinder alleine erzieht.

Mehrmals in der Woche fährt sie Emir D. zur Chemotherapie, hat deshalb keine feste Anstellung. Sie hat sogar die Sparverträge für die Kinder aufgelöst, um das Benzin für die Fahrten zum Arzt und die Vitamintabletten, die der Vater benötigt, bezahlen zu können. Dabei würde seine Tochter Emir D. so gern eine Freude machen, sie möchte ihm in Erinnerung an bessere Zeiten ein paar alte bosnische Videos kaufen wie den von den Lastwagenfahrern, kamiondzije. "Den liebt mein Vater."

Rund 15.000 demente alte Menschen gibt es nach einer Hochrechung des Amtes für soziale Sicherung in München. Viele davon leben am Existenzminimum, in ihrer eigenen Welt, in ihrer eigenen Zeitrechnung. Manche Verwirrte werden aggressiv, wenn man sie auf Fehler anspricht, schildert Maria Hussain eines der vielen Probleme, das die Angehörigen umtreibt. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin kommt in ihrer Praxis täglich mit dementen Menschen in Kontakt. Auch Emir D.s Ehefrau läuft ihrem Mann lieber nach, als dass sie versucht, ihn zurückzuhalten. Und es kostet sie jedes Mal viel Überredungskraft, Emir D. zum Umkehren zu bewegen.

"So lange es nur darum geht, dass jemand zwei verschiedene Socken an hat oder einen Pulli verkehrt herum trägt, sollte man ihn einfach lassen", sagt die Ärztin Maria Hussain. Aber allein durch die Stadt irren lassen kann Iolanda D. ihren Mann natürlich nicht.

Hussain weiß, dass nicht nur die Angehörigen eines verwirrten Menschen leiden - auch für die Betroffenen sei es "schrecklich", den eigenen Verfall mitzuerleben. Viele Demente entwickeln deshalb Verschleierungsstrategien - aus Angst, entmündigt zu werden, oder weil sie ihre Krankheit nicht wahrhaben wollen. Von "Wischiwaschiantworten" spricht Maria Hussain und bringt als Beispiel die Frage: "Wo gehst du hin?", auf die ein lapidares "Was erledigen!" zur Antwort kommt.

Tagespflege als Entlastung

Ein große Entlastung für Angehörige, die ihre Verwandten nicht in ein Pflegeheim geben wollen, sind Tagespflege-Einrichtungen. Von denen aber gibt es in München zu wenige. "Wir haben keine Lobby", klagt Anne Matz, die in Aubing in ihrem Privathaus eine Tagespflege eröffnet hat. Ärzte und Kliniken raten ihrer Ansicht nach häufig zu rasch dazu, einen verwirrten Menschen ins Heim zu geben - und viele Angehörige seien auch empfänglich für den Rat. "Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand fällt, geringer, wenn man ihn im Bett wegbewahrt", sagt Matz.

Die 14 Damen und Herren, die bei ihr den Tag verbringen, tragen keine Windeln. Gefrühstückt wird jetzt im Winter bei Kerzenlicht. So viel wie möglich will Anne Matz auch verwirrte alte Menschen am Leben teilhaben lassen. Dazu gehören die regelmäßigen Ausflüge zur Blutenburg, ein Schaufensterbummel zum Olympia-Einkaufszentrum. Doch solche Extras sind in der Pflegeversicherung, über die sich die Tagespflege finanziert, nicht vorgesehen.

Auch Maria T. lebt noch in ihrer eigenen Wohnung, die sie jedoch ohne Hilfe und ohne Rollstuhl nicht verlassen kann. Auf ihrem Sofa sitzt die 79-Jährige umringt von Stofftieren und Puppen. Die Wände sind übersät mit Zinntellern und Holzschnitzereien, die ihr Mann gefertigt hat. Dazwischen hängen Fotos von Dackeln, ganze Generationen müssen bei dem Ehepaar gelebt haben, und alle hießen sie "Strolchi". Als der letzte Strolchi eingeschläfert werden musste, stellte Maria T. noch zwei Jahre lang Futter an seinen Liegeplatz, erzählt ihr Betreuer.

So lange wie möglich möchte er Maria T. in ihrer Wohnung lassen, denn er fürchtet, dass sie einen Umzug ins Heim nicht überleben würde. Drei- bis viermal täglich kommt der Pflegedienst, einmal in der Woche bringt ein Pfleger sie zum Seniorennachmittag. "I geh doch so gern unter d'Leid", sagt Maria T. und erzählt davon, dass sie regelmäßig mit dem Zug nach Garmisch fährt und auf die Zugspitze geht. Hinter ihr schüttelt der Betreuer den Kopf, ohne dass Frau T. es bemerkt.

Früher, als ihr Mann noch gelebt hat, war Maria T. im Alpenverein. "Des war schee, da warma beinander. Aber des gibts jetzt gar nimmer", sagt Frau T.. Ihr Mann ist vor einigen Jahren an Lungenkrebs gestorben, "viel zu früh", merkt Maria T. an. Kinder haben die beiden nie bekommen. Das Geld, das ihr zur Verfügung steht, ist so knapp bemessen, dass der Kuchen beim Seniorennachmittag oder der Ausflug auf den Christkindlmarkt schon Luxus ist. Mit Unterstützung vom SZ-Adventskalender würde eine Betreuerin mit Maria T. ab und zu dorthin fahren können, wo sich die Frau hinträumt - in die Berge.

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