SZ-Adventskalender (II):Wenn im Alter die Kräfte schwinden

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Die Grundsicherung an Sozialhilfe beträgt 345 Euro - in München reicht das nur fürs Allernötigste. Viele Senioren leben wie Maria W. am Rande des Nichts.

Sibylle Steinkohl

140 Euro! Maria W. kann immer noch nicht fassen, was sie im Frühjahr für die neue Brille bezahlen musste. "Dabei hab' ich das alte Gestell hingebracht", sagt sie und schüttelt den Kopf. Die stärkeren Gläser haben weit mehr als ein Drittel des Betrags verschlungen, den sie monatlich zur Verfügung hat.

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Und nun sorgt die Brille erneut für Probleme: Ein Glas ist herausgebrochen, und Frau W. hat sich gleich in der Früh mit ihrem Gehwagen auf den weiten Weg zum Optiker gemacht. "Morgen hole ich sie wieder ab", erklärt sie. Zweimal am gleichen Tag hin und zurück - das schafft die alte Frau nicht mehr. "Nun sehe ich Sie halt doppelt", erklärt sie ihrem Besuch mit dem Anflug von Humor, der ihr geblieben ist, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Die Not ist zweifach

Ein Leben am Existenzminimum, ein Leben mit schwindenden Kräften - am Beispiel der Brille offenbart sich rasch die zweifache Not der 88-jährigen Maria W. Klein und zerbrechlich sitzt sie am Küchentisch, fast scheint sie in ihrem viel zu weiten Pullover und der schlabbrigen Hose zu verschwinden. Im Frühling, als sie so krank gewesen ist, habe sie 15 Kilo abgenommen.

Nun hat sie sich zwar wieder aufgerappelt, doch die Alte sei sie nicht mehr geworden, sagt Frau W. "Ohne Gehwagerl kann ich nicht raus", und eine U-Bahn-Fahrt zur schwerbehinderten Tochter, die nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt, traut sie sich nicht mehr zu. In der Wohnung geht es besser: Da hält sich Maria W. bei jedem Schritt irgendwo fest, denn zum schweren Herzleiden und den Wassereinlagerungen ist chronischer Schwindel dazugekommen.

Manchmal kauft ihr jetzt eine Nachbarin ein, doch den Haushalt muss die hochbetagte Frau ganz allein machen. " Jeden Tag ein bisschen was", sagt sie und geniert sich, weil die Küche schon längst geweißelt werden müsste. Dabei sieht es überall blitzblank und ordentlich aus, und Frau W. lässt es sich auch nicht nehmen, eine Kartoffelsuppe zu servieren, dick und selbst gemacht, mit Karotten und Speckwürfeln: "Dann braucht man kein Fleisch."

Keiner geht bei ihr leer aus. Dem Jungen, der über ihr wohnt, schenkt sie ein Keks oder ein Bonbon, der Kater vom Nachbarn gegenüber hat ein Kissen neben dem Herd und ein wenig Futter im Napf. Dabei lebt Frau W. selber von der Hand in den Mund und kann sich nicht genug wundern über die jungen Mütter, "die so reich sind, dass sie ihren Kindern Gummibärchen in der Apotheke kaufen".

Nicht über Geld zu sprechen, das kann sich die 88-Jährige nicht leisten. Wenn sie von ihrer Witwenrente die Miete für ihre kleine Erdgeschoss-"Schlichtbauwohnung", wie der Fachausdruck lautet, überwiesen und die Strom- und Gas-Pauschale bezahlt hat, bleiben ihr 350 Euro zum Leben - für Telefon und Kleidung, für Lebensmittel und Brille. Früher habe sie manchmal sogar ein paar Mark weggelegt, erzählt sie.

Auch die Tochter ist arm dran

"Aber jetzt, bei diesen Heizungs- und Stromkosten." Die 200 Euro für die Nachzahlung habe ihr kürzlich die gelähmte Tochter vorgestreckt, die selber jeden Pfennig umdrehen müsse. Ihre geringen Ersparnisse hat sie für den Klinikaufenthalt der zweiten Tochter drangegeben, die in Amerika in bescheidenen Verhältnissen lebt, im Frühjahr die schwer erkrankte Mutter besucht und sich hier einen komplizierten Beinbruch zugezogen hat.

Armut und Alter machen Frau W. einsam. Die zwei Freundinnen sind tot, und der erwachsene Enkel kommt immer seltener. Früher habe er öfter angepackt, und sie habe ihm jedesmal eine Kleinigkeit zugesteckt, sagt sie. "Aber neuerdings lässt er sich kaum noch sehen." Sachlich klingt das, doch dass es sehr weh tut, kann sie nicht verbergen.

"Wissen Sie, wie es ist, wenn man den ganzen Tag kein Wort redet?" Frau W. versucht, nicht zu weinen, und nimmt ihr Gasttier auf den Schoß: "Drum mag ich den Kater." Ihr Hilfebedarf ist für die Pflegeversicherung nicht groß genug: Sie springt erst ein, wenn dieser mindestens 90 Minuten beträgt. Dazu fehlen Frau W. laut Gutachten zwölf Minuten, für selbst bezahlte Hilfen hat sie kein Geld.

Leben wird zum Rechenexempel

Das Leben ist für viele alte Leute zum Rechenexempel herabgewürdigt - und es wird für Rentnerinnen wie Frau W. und für Menschen, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind, immer schwerer. Die Grundsicherung nach SGB XII, wie die Sozialhilfe für Erwerbsunfähige und vor allem für Alte genannt wird, beträgt jetzt 345 Euro. Dieser Betrag muss nicht nur für das Essen, sondern auch für Strom und Telefon, für Kleidung und eine Wohnungsrenovierung reichen.

Die Bezahlung von Brillen und Hörgeräte-Batterien wurde mit dem Gesundheitsmodernierungsgesetz gestrichen. "Aufgrund der Sozialhilfereform kann die Stadt heuer auch keine Weihnachtsbeihilfe mehr bezahlen", erläutert Franz Singer vom Sozialreferat. Gravierende Einschnitte seien das für die mehr als 8000 Menschen in München mit Grundsicherung, befürchtet der Sachgebietsleiter im Amt für Soziale Sicherung: "In der teuren Stadt ist es das unterste Level."

Selma K.'s Optimismus ist dennoch unerschütterlich: "Ich wurstle mich schon durch", sagt die 76-Jährige energisch, blättert im Fotoalbum und erzählt von den glücklichen Jahren als Volksschauspielerin, in denen sie mit Willi Harlander auf der Bühne gestanden und mit Maxl Graf auf Tournee gegangen ist. Extra für den Fotografen hat sie sich schön gemacht, der geblümte Rock stammt noch aus den alten Zeiten: "Gwand kann ich mir schon lang keines mehr kaufen."

Lebensversicherung verkauft

Von ihren äußerst knappen Finanzen - Frau K. bekommt aufzahlende Grundsicherung - spricht sie ebenso ungern wie von den zunehmenden Gebrechen, dem Diabetes, den schlechten Beinen, dem kaputten Kreuz. Vier Jahre hat sie den schwerst pflegebedürftigen Ehemann allein betreut, Tag und Nacht, damals, als es noch keine Pflegekasse gab und sie die Lebensversicherung verkaufen musste, um über die Runden zu kommen.

Nach seinem Tod hat sich Frau K. dann an das Sozialamt gewandt. "Das war das schwerste", sagt sie, "ich habe geheult, als würde ich auf die eigene Beerdigung gehen." Ihre Dankbarkeit für die Unterstützung hält an, bis heute: "Ich kann nicht auf Deutschland schimpfen, auch wenn ich keine Taxischeine kriege.'' Inzwischen verlässt sie die Wohnung kaum noch. Schon für kurze Strecken braucht die Seniorin den Gehwagen, muss sich immer wieder setzen und ausruhen. "Die guten Zeiten sind eben vorbei", sagt sie. Was ihr in den schlechten alles widerfahren ist? Da gibt Frau K. eine kluge Antwort: "Das Leben halt."

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