Die gelb ummantelten Wälzer erreichen schon "Krieg und Frieden"-Format. Mehr als 2000 Seiten harren im Büro von Josef Schmid ihrer Durchforstung - bedruckt nicht etwa mit feinen Tolstoi-Formulierungen, sondern mit schnöden Zahlenreihen: Haushaltsposten der Stadt München, die Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben, Listen der Vermögenswerte sowie das auf mehrere Jahre ausgelegte Investitionsprogramm.
"Eine sehr komplizierte und unübersichtliche Materie", seufzt der CSU-Fraktionschef im Rathaus. Spaßeshalber hat einer seiner Kollegen die Bände auf die Briefwaage gelegt - die bei dem Experiment prompt ausstieg.
Schmid und seine Fraktionskollegen werden sich die Ungetüme trotzdem zu Gemüte führen. Denn im Etat des reichen München klaffen nicht zu übersehende Löcher. Alexander Reissl, Fraktionschef der SPD, spricht von einem strukturellen Defizit von bis zu 250 Millionen Euro, das es abzubauen gilt.
Es muss also gespart werden - mit erhöhter Intensität. Und da will natürlich auch die Opposition mit eigenen Ideen aufwarten, mit Gegenentwürfen zur Rotstift-Strategie der rot-grünen Koalition, deren Details Oberbürgermeister Christian Ude und Kämmerer Ernst Wolowicz am Montag vorstellen wollen.
Das Hauptproblem Münchens sind Veränderungen, auf die die Stadt keinen Einfluss hat. Während die Einnahmen durch Wirtschaftskrise und Steuergeschenke des Bundes stetig sinken, steigen die Ausgaben für die Pflichtaufgaben. Wie ein Damoklesschwert hängt etwa der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für alle Einjährigen über den Kommunen, der ab 2013 gilt. Durchgesetzt hat das Berlin, die Krippen bauen und unterhalten müssen jedoch Städte und Gemeinden.
Münchens Kämmerer sind seit 17 Jahren damit beschäftigt, den Haushalt zu konsolidieren. Bei Posten, über die die Stadt selbst die Kontrolle hat, ist das nach Einschätzung des derzeitigen Amtsträgers gelungen, doch in anderen Bereichen explodieren die Ausgaben. "Wir sind in der Zange", sagt Wolowicz. Allein die jüngste Steuersenkung des Bundes, genannt Wachstumsbeschleunigungsgesetz, kostet München heuer 22 Millionen Euro. Im kommenden Jahr sind es sogar 50 Millionen - dann greift das Gesetz voll. Hinzu kommen massive Gewerbesteuereinbrüche, und auch die Einkommensteuer geht in Zeiten der Wirtschaftskrise zurück. Konjunktur hat vor allem das Sparen.
In den Fraktionsräumen am Marienplatz wird seit Monaten getüftelt, wie sich der Haushalt, dem 2010 eine Neuverschuldung von weit mehr als 200 Millionen Euro aufgebürdet wird, sanieren lässt. An einem Samstag vor Ostern trafen sich Wolowicz und die SPD zur Krisensitzung, seither feilt eine Arbeitsgruppe am Sparkurs der Stadt.
Bis Pfingsten hatte sich Rot-Grün im Rathaus auf erste Schritte geeinigt: Auf der Ausgabenseite sollen heuer 40 Millionen Euro gespart werden, zudem die Einnahmen durch Steuererhöhungen verbessert werden. Geplant sind eine Anhebung der Grundsteuer, die auch Mieter treffen wird, eine höhere Hundesteuer sowie eine Abgabe für alle Hotelgäste. 2,50 Euro pro Nacht soll die Taxe betragen, die bei den Hoteliers sofort einen erbosten Aufschrei ausgelöst hat.
Ob es den Aufschlag jemals geben wird, ist allerdings zweifelhaft: Die Rathaus-FDP will eine solche Steuer über den Landtag verbieten lassen.
Zwei Stellschrauben will die SPD jedoch nicht antasten: die Zuschüsse an Initiativen und Vereine, die zunächst nur eingefroren werden, und die Gewerbesteuer. Der Münchner Parteichef Hans-Ulrich Pfaffmann hatte zwar vorgeschlagen, die Betriebe stärker zur Kasse zu bitten. Doch diesen Vorstoß bezeichnet Reissl von der Rathausfraktion höflich als "eigenartig" und stellt klar: "Ich sehe da keinen Spielraum."
Ein weiterer Hebel sind die Investitionen. Grünen-Fraktionschef Siegfried Benker regt an, Projekte an ihrer Nachhaltigkeit zu messen, also ihren Nutzen für die Umwelt und vor allem auch die Folgekosten zu berücksichtigen. Klar ist, dass die Sanierung des Gasteigs auf die lange Bank geschoben und auf den Straßenumbau im Tal zunächst verzichtet wird.
Genau ein Stockwerk über den Räumen der SPD, bei der CSU, wird das alles etwas anders gesehen. Zwar haben die Konservativen erst begonnen mit ihrer Spardebatte. Schon jetzt aber steht fest, was man auf keinen Fall mitmachen will: Steuererhöhungen. Klar, zusätzliche Einnahmen sind erwünscht, aber eben nicht auf diesem Weg. "Wir sollten uns intensiver um neue Firmen und damit Gewerbesteuerzahler bemühen", findet Schmid. Durch Stadtmarketing etwa und professionelle Begleitung durch das Dickicht der Behörden, damit die Unternehmen nicht sofort wieder Reißaus nehmen.
Auch die Ursachen des Haushaltslochs beurteilt Schmid anders als der Kämmerer - und trifft sich da mit Michael Mattar von der FDP. Wer wie SPD und Grüne permanent zusätzliche Stellen in der Verwaltung schaffe, müsse sich nicht wundern, wenn die Kosten aus dem Ruder laufen. Oder die Standards: Was München sich bei seinen Neubauten an Ausstattung gönne, reiche locker für die Luxuskategorie.
Der beheizte Kinderwagenkeller etwa, von dem CSU-Sprecher Thomas Reiner zu berichten weiß. Überhaupt kursieren zu diesem Thema zahllose Anekdoten in den Fluren des Rathauses. Mattar erzählt von Schulpavillons, deren Kosten die eines Einfamilienhauses erreichen. Und selbst SPD-Finanzpolitiker Kaplan lästert über die Vorschrift, dass Erstklässler stets im Erdgeschoss und keineswegs in den oberen Etagen eines Schulpavillons unterrichtet werden müssen. Die Standards stehen daher auch bei Rot-Grün auf der Agenda.
Während die anderen Parteien den Giftschrank noch geschlossen halten, wagt sich die FDP weiter vor. Seit Ostern präsentiert sie jede Woche einen Sparvorschlag: mal die Schließung des Eine-Welt-Hauses, mal die Privatisierung des Bauzentrums. Dem Sozialprojekt "Regsam" will sie die Zuschüsse streichen, und überhaupt hält Fraktionschef Mattar "nicht alle Initiativen in München für so wertvoll". Warum die Stadt einen Trommelkurs fördert, will ihm zum Beispiel nicht einleuchten.