Serie: Armut in der reichen Stadt:"Vielleicht kochen Sie der Kleinen mal etwas"

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Unterwegs mit einer Kinderkrankenschwester, die Gesundheitshilfe bei Familien leistet, die einfach nicht mehr klarkommen.

Sibylle Steinkohl

Manchmal wirkt Elfi Wiesent (Namen der Familien geändert) selber noch wie ein Kind. "Ich esse, wann ich will", sagt die 22-Jährige, und das sei meistens nur einmal täglich, am liebsten am Abend, wenn die kleine Tochter schon schlafe.

Dann hört sie wieder der Frau zu, die neben ihr sitzt und ihr geduldig erklärt, wie wichtig halbwegs regelmäßige und vor allem gemeinsame Mahlzeiten in einer Familie doch seien: "Auch wenn Sie nur eine Kleinigkeit zu sich nehmen."

Und die zweijährige Marie solle wegen ihrer chronischen Verstopfung keine Gläschen mit Karotte bekommen. "Vielleicht kochen Sie mal was", schlägt die Besucherin vor und zieht einen Bogen Papier aus der Tasche. Ein Nahrungsplan sei das, in den die junge Mutter nun eine Woche lang eintragen könne, was ihr Kind isst. Elfi Wiesent schaut lange auf das Blatt. Sie will es versuchen, sagt sie dann.

Womöglich ist das eines von Frau Wiesents Problemen: Sie möchte vieles gern, aber irgendwie schafft sie es nicht recht. Vor allem möchte sie ihrem Töchterchen eine gute Mutter sein, dem Kind, das sie sich auf die Welt zu bringen entschloss, auch als die werdenden Eltern früh in der Schwangerschaft getrennte Wege gingen.

Träume von Bollywood

"Ich möchte sie nicht mehr missen, aber es wird mir auch zu viel", sagt die junge Frau und spricht von der eigenen Kindheit, die keine glückliche gewesen sei. Es habe oft Probleme gegeben, die Mutter habe sich immer überfordert gefühlt und sie und die Geschwister seien herumgeschoben worden.

Nein, das alles will Elfi Wiesent beim eigenen Kind nicht wiederholen. Und doch gelingt es ihr nur mit Mühe, Marie eine andere Mutter zu sein."Ich versuche, ihr Liebe zu geben, was mir nicht leicht fällt", sagt sie, lange habe sie nach dem Kaiserschnitt gebraucht, um Gefühle zu entwickeln. Erst als sie Albträume quälten, ihr Baby würde den plötzlichen Kindstod sterben, habe sie gewusst, dass sie Marie liebe.

Doch um den Alltag mit einem Kleinkind zu meistern, genügt ihr guter Wille allein nicht. Da würde ohne Ingeborg Creutzmann und ihren Ansporn und ihre Unterstützung einiges schieflaufen.

Die Kinderkrankenschwester macht einmal in der Woche einen Besuch bei Elfie und Marie Wiesent, sie schaut, wie das kleine Mädchen gedeiht, gibt Tipps und Ratschläge zum Schlafen und zur Ernährung, zu Erziehung und Förderung, sie hört zu und organisiert weitere Hilfen.

"Das Soziale spielt immer mit herein, man kann es nicht von der Gesundheit trennen", sagt die ehemalige Lehrerin für Kinderkrankenpflege, die seit 1993 bei dem Besuchsdienst der Stadt München arbeitet. So hat sie dafür gesorgt, dass die schweigsame Marie Sprachförderung bekommt und ihre Mutter eine Therapie. Nun reden die beiden Frauen über einen Krippenplatz, denn das Kind solle auch mit anderen Bezugspersonen aufwachsen und die junge Frau entlastet werden.

Marie ist ein zartes, blondes Püppchen in Rosa - nur nicht so pflegeleicht. Wegen ihres harten Stuhlgangs habe das Kind von drei Uhr an alle halbe Stunde geweint, klagt Frau Wiesent. Ein heikles, schon öfter besprochenes Kapitel. Die 22-Jährige geht erst gegen zwei Uhr nachts ins Bett, vorher sitzt sie stundenlang zum Chatten am Computer oder schaut Bollywood-Filme, heitere Liebesgeschichten aus Indien mit viel Tanz und Gesang,"um mich ein bisschen abzulenken vom Leben", sagt sie. Dann kommt sie am nächsten Tag erst gegen zehn, elf Uhr aus den Federn.

"Sie müssen für sich selber einen anderen Schlafrhythmus finden, sonst haben Sie keine Kraft für Marie", sagt Ingeborg Creutzmann, und auch, dass Marie nicht 15 Stunden im Bettchen verbringen könne. "Elf Stunden Schlaf in der Nacht und zwei am Tag sind genug." Elfie Wiesent hört aufmerksam zu.

"Ich versuche ja, mit ihr zu spielen und rauszugehen", erwidert sie und erzählt, wie schwer es für sie sei, die die Schule abgebrochen und keine Ausbildung gemacht hat und vom "Vater Staat" lebt, ihrem Kind nicht das kaufen zu können, was sie möchte. Ingeborg Creutzmann blickt auf die bunten Spielsachen im Zimmer. "Marie entbehrt nichts an materiellen Dingen", sagt sie energisch, nimmt das Mädchen auf den Schoß und macht mit der jauchzenden Kleinen "Hoppe hoppe Reiter".

"Es ist eine Arbeit der kleinen Schritte", meint sie später, nachdem sie mit der jungen Mutter einen neuen Termin vereinbart und sie gebeten hat, bis zum nächsten Mal mit Marie das Trinken aus der Tasse zu üben. Das Wichtigste: Frau Wiesent hat Vertrauen zu ihr gefasst und erlaubt ihr, regelmäßig zu kommen, seit die Schwester vor einem Jahr zum ersten Mal an der Tür klingelte.

"Bleibt mir bloß weg!"

Weil ein niedriger Sozialstatus mit höheren Gesundheitsrisiken einhergeht, konzentrieren sich der städtische Krankenschwesterndienst inzwischen auf Stadtviertel mit vielen Kindern und mit benachteiligten Familien.

3300 Buben und Mädchen bis zum dritten Geburtstag haben die rund ein Dutzend Mitarbeiterinnen im vergangenen Jahr besucht - ein Angebot, das das Münchner Gesundheitsreferat gern auf mehr Familien und auch auf ältere Kinder ausweiten würde.

Denn Not und Verzweiflung hinter verschlossenen Wohnungstüren sind groß: 65 Prozent der besuchten Familien kämpften bei ihrem Nachwuchs mit Ess-, Trink- und Schlafstörungen und Erziehungsproblemen - und fühlten sich überfordert.

In jeder zehnten Familie war der Befund noch gravierender und reichte bis hin zu Vernachlässigung und Misshandlung. Eine schwierige Gratwanderung zwischen dem Erkennen solcher Vorgänge, dem Kindeswohl und dem Vertrauen der Eltern sei das, berichtet Ingeborg Creutzmann nachdenklich: "Das belastet oft."

Bei Familie Mühling, der nächsten auf Creutzmanns Besuchsliste, hat sich dank des Einsatzes einer Kollegin, die früher für die Gegend zuständig war, vieles zum Besseren gewendet.

Ein fast normaler, turbulenter Haushalt mit drei sehr temperamentvollen kleinen Kindern - so sieht es dort heute aus, auch wenn das Geld äußerst knapp ist und die fünfköpfige Familie mit dem kargen Arbeiterlohn des Vaters und Hartz IV-Aufstockung über die Runden kommen muss.

"Dass eines Tages die Schwester vor mir gestanden ist, war der beste Zufall, der mir passieren konnte", schwärmt Rosi Mühling, "ohne sie würde es meine Familie so nicht mehr geben."

Jeder Tag eine Katastrophe

Im Supermarkt hatte sie Ladenverbot, weil ihre zwei Großen, heute fünfeinhalb und dreieinhalb, immer die Flaschen umgeworfen und die Schokoriegel angebissen haben, aus dem Kindergarten ist Diana herausgeflogen, und Bruder und Schwester waren so aggressiv, dass die Mutter sie nicht aus den Augen lassen konnte.

"Jeder Tag war eine Katastrophe", sagt Frau Mühling, "mein Mann hatte die Schnauze voll, der Jüngste wäre nie geboren worden, ich hatte nur noch den Gedanken, bleibt mir weg mit diesen Kindern und diesem Haushalt."

Erst die Kinderkrankenschwester hatte den Verdacht, dass es sich bei Dianas und Marcels wildem Treiben um Hyperaktivität handeln könne; sie stand mit Rat und Tat zur Seite und vermittelte auch den Kontakt zum Sozialamt und zu heilpädagogischen Tagesstätten, die Sohn und Tochter heute besuchen.

Bei einer gemeinsamen Therapie übten Frau Mühling und Diana außerdem, wie sie am besten miteinander klarkommen. Das Mädchen schleppt stolz drei große Blumentöpfe heran, die in fröhlichen Farben bemalt sind - ein gemeinsames Werk von Eltern und Kindern. Frau Mühling deutet darauf und freut sich: "Dass wir so etwas machen, wäre vor eineinhalb Jahren noch ganz unmöglich gewesen."

© SZ vom 31.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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