Radeln in München:Edler treten

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Mit einem High-Tech-Projektil für 4000 Euro zum Starnberger See. Von Tanja Rest.

11.32 Uhr, Leopoldstraße. Gefahrene Kilometer: 0,5; Herzfrequenz: 115; ver-brauchte Kalorien: 18.

Mein Bike (Foto: Rumpf)

Wenn man das hochrechnet, muss ich mir nach 80 Kilometern elf Snickers reinpfeifen, um das Kilojoule-Defizit zu kompensieren - vorausgesetzt, die Herzwerte bleiben im Rahmen.

So ein Bordcomputer ist schon was Feines. Axel sagt, ohne macht er's nicht mehr, weil er sonst sein Training nicht optimieren kann. Das optimierte Training von Axel sieht so aus, dass er sich samstags auf sein Cannondale Jekyll 800 mit Headshok-Lefty-Gabel schwingt, den Fox-Float-L-Dämpfer runtertunt, 100 Kilometer abreißt und hinterher auf dem Digital Observer seine durchschnittliche Lap Time abliest.

Axel schwört, bei einem 110-er Federweg sei seine Lap Time einfach spitze. Übrigens geht es ums Radfahren. Genauer darum, dass ich ein Messgerät umgeschnallt habe, das meine Herzfrequenz an eine Digitaluhr sendet, welche am Lenker eines 4299-Euro-Fahrrades justiert ist.

Ich bin Teil einer Versuchsanordnung aus dem Biker-Cyberspace, die es an diesem Tag von München zum Starnberger See, drumherum und bis nach Starnberg schaffen will.

12.45 Uhr, Schäftlarn. Kilometer: 25; Herzfrequenz: 135; Kalorien: 880.

Radfahren ist ja unglaublich gesund. Stärkt das Herz, mobilisiert die Immunkräfte, setzt Endorphine frei, baut Kalorien ab und Muskeln auf. "Stylt den Body", sagt Axel.

Auf jeden Fall ist es die beliebteste Sportart der Deutschen, noch vor Fußball. Im ersten Halbjahr 2001 haben sie 3 Millionen Fahrräder gekauft - bevorzugt Trekking- und Mountainbikes, mit denen man einerseits die Alpen überqueren könnte, andererseits aber auch am Firmen-Fahrradständer noch einen irre sportiven Eindruck hinterlässt.

Das Imponiergerät kommt allerdings teuer. Axel sagt, alles unter 3000 Euro sei rausgeschmissenes Geld. Ich selbst fahre gewöhnlich ein namenloses Rennrad aus der Abteilung 70-er Jahre Schwermetall, mit dem ich die Theresienhöhe gerade noch hochkomme.

Wie schlecht diese Gurke wirklich ist, weiß ich aber erst, seit ich auf dem Fully sitze. "Fully" ist Biker-Jargon und bedeutet "komplett gefedertes Rad".

Sich ein solches High-Tech-Projektil auszuleihen, ist eine Erfahrung der surrealen Art, die man Freunden nicht wünscht. Zuerst wollte der Mann beim Outdoor-Karstadt wissen, ob ich auf eine XTR-Schaltung Wert lege.

Fieberhaftes Grübeln: Lege ich Wert auf eine XTR-Schaltung? Aus dem folgenden Monolog sind mir die Worte "Druckstufenregulierung", "Öl-Luft-Dämpfer" und "Vierkolben- Scheibenbremse" noch in verstörender Erinnerung.

Am Ende haben wir uns geeinigt, dass ich einfach das Teuerste und XTR-mäßigste nehme, was da ist. Leihgebühr für ein Wochenende: 40 Euro. Als ich Axel abends durchtelefoniert habe, dass ein Corratec Rocklight Air Tech One bei mir im Wohnzimmer steht, war er ehrlich beeindruckt.

Um die abgezockte Brillanz dieses Ferraris unter den Bikes ermessen zu können, genügt ein Blick auf die Gabel: Es ist eine Manitou-Gabel mit nach hinten verlegter Brücke für zusätzliche Steifigkeit, Lockout-Funktion und Abschmiernippeln. Das Modell steht im Deutschen Museum. Kein Witz.

13.50 Uhr, Wolfratshauser Steige. Gefahrene Kilometer: 38; Herzfrequenz: 160; verbrauchte Kalorien: 1330.

Mein Herz macht mir allmählich Sorgen. Wenn dieser Everest nicht bald ein Ende nimmt, erreiche ich womöglich noch den kritischen Wert von 190, und dann? Dafür liege ich kalorientechnisch jetzt schon bei fünf Snickers oder zwei Schweinsbraten mit Sauce.

Hinzu kommt das völlig neue Bergauf-Gefühl. Vor einem Jahr habe ich mich schon mal hier hochgequält, auf meinem Renn-Oldie mit zwei funktionsfähigen Gängen - nach 500 Metern musste ich schieben und Horden grinsender Fully-Fahrer an mir vorüberziehen lassen.

Heute ist das eine andere Galaxis: Mein Corratec Rocklight liegt butterweich auf der Straße, die Dämpfer schlucken jeden Kiesel, und dann habe ich auch noch drei mal neun Ritzel, also 27 Gänge zur Auswahl. Momentan fahre ich mühelos im dritten Gang, mit einem Geländegewinn von schätzungsweise zehn Metern pro Minute. Egal. Hauptsache nicht laufen.

15.10 Uhr, Ambach. Kilometer: 55; Herzfrequenz: 120; Kalorien: 1910.

"Kommst du klar?" Was bildet der Typ sich ein? Klar komm' ich klar. Die Zeiten, in denen man sich als Frau wegen einer runtergesprungenen Kette jedem dahergeradelten Möchtegern heulend vor die Speichen geworfen hat, sind vorbei.

Axel behauptet ja, dass er bei jeder dritten Tour ein Mädel kennen lernt, das die Technik nicht in den Griff bekommt. Nicht mit mir. Ich klemme die Kette wieder aufs Zahnrad, und der Freiwillige im "Festina"-Shirt guckt zu.

"Schickes Bike hast du da." Mhm. Hoffentlich sieht er die Leihnummer nicht. "Stahlflex, oder?" So, das war's. Jetzt steh' ich da wie ein Idiot und hab' keine Ahnung, wovon der Mann redet. Schwacher Abgang. (Der Verkäufer beim Outdoor-Karstadt hat mir später erklärt, dass mein Bike Stahlflex- Bremsleitungen hat, die sonst nur beim Motocross verwendet werden. Da muss man erstmal drauf kommen.)

16.20 Uhr, Feldafing. Kilometer: 70; Herzfrequenz: 145; Kalorien: 2722.

Ich finde es irgendwie beruhigend, dass auch auf einem 4299-Euro-Fahrrad einmal der Punkt kommt, wo einem der Hintern weh tut und die Beine schwer werden. Dieser Punkt ist etwa auf Höhe Buchheim-Museum erreicht, und seitdem schreitet der körperliche Verfall voran.

Gleichzeitig befinde ich mich in einem wahnwitzigen Stimmungshoch. Mein Bike groovt, und dann sieht der Starnberger See ja noch viel, viel schöner aus, wenn man ihn aus eigener Kraft erreicht hat. Großartiger. Echter. Noch neun Kilometer bis Starnberg.

Jetzt muss ich mich ranhalten, weil sich der Himmel übel verfinstert. Bestimmt regnet's heute noch. In Possenhofen flirte ich kurz mit dem S-Bahn-Schild, aber der Ehrgeiz siegt. 80 Kilometer, und keinen Zentimeter weniger.

16.35 Uhr, Niederpöcking. Hagel.

Sogar ein paar Autos halten an. Ich stehe zusammen mit drei Motorradfahrern und dem Biker Horst in einem Bus- Häuschen, und alle haben Regenzeug dabei. Nur ich nicht. "Blöd", sagt Horst. Das kann man laut sagen. Die Temperatur fällt minütlich, meine Klamotten sind nass, und gegessen hab' ich seit heute morgen nichts mehr.

Immerhin bewundert Horst mein Fahrrad. Er erzählt, dass er seit zwei Jahren radelt und auf ein Fuji Diamond Superlite spart, mit dem er dann die Alpen überqueren will. Er sagt, dass Radfahren glücklich macht. So geht eine Dreiviertelstunde rum, es regnet immer noch, aber das ist mir jetzt wurscht.

Auf den letzten vier Kilometern durchpflügen die Reifen Straßenseen, und zum ersten Mal an diesem Tag denke ich sehnsüchtig an meine Renn-Gurke daheim. Die hat wenigstens ein Schutzblech.

17.50, S-Bahnstation Starnberg. Gefahrene Kilometer: 81; Herzfrequenz: 125; verbrauchte Kalorien: 3050.

Dreitausendfünfzig Kalorien!!! Aber zu welchem Preis. Ich stehe frierend am Bahnsteig, bin rundum schlammbespritzt, meine Beine wiegen zwei Zentner, der Schädel dröhnt, und mein Hintern ist eine einzige Druckstelle. Wahrscheinlich muss ich Montag mit Sitzkissen ins Büro.

Neben mir steht mein tropfendes Corratec Rocklight Air Tech One glanzlos in einer Schmutzlache. Wird von den anderen abgekämpften Bikern keines Blickes gewürdigt.

Ist in diesem Moment einfach eines von 65 Millionen Fahrrädern in Deutschland, auf denen 45 Millionen Menschen pro Jahr insgesamt 2,8 Milliarden Fahrten unternehmen. Ich gebe zu, dass ich es ungern zurückbringe.

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