Personal- und Finanznot an Hauptschulen:"Ein vernünftiges Angebot ist nicht mehr möglich"

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Die Hauptschulen in München verzeichnen einen massiven Lehrermangel. Die Münchner Verbandsvorsitzende Waltraud Lucic fordert nun für jede Schule mindestens eine zusätzliche Lehrkraft.

Christian Rost

Der Lehrermangel an den Münchner Hauptschulen spitzt sich zu. In diesem Jahr fehlen an 44 Schulen 47 Lehrer. Das Schulamt will die Mängel durch den Einsatz von Grundschullehrern beheben, sofern diese allerdings den Dienst überhaupt antreten. Freiwillige Angebote müssen in jedem Fall gestrichen werden. Wie massiv die Probleme sind, beschreibt die Vorsitzende des Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Waltraud Lucic.

Waltraud Lucic beobachtet eine wachsende Armut in den sozial schwachen Familien (Foto: Foto: SZ/Rumpf)

SZ: Sie schlagen Alarm, wie schlimm ist es um die Hauptschulen bestellt? Waltraud Lucic: Die Situation ist schwierig. Von der vierten Jahrgangsstufe an gehen nurmehr 17 Prozent der Kinder auf die Hauptschule. Bayernweit liegt der Wert bei bis zu 35 Prozent. Großstadt-Klassen setzen sich folglich anders zusammen, der Migartionshintergrund ist ein besonderes Thema, die sozial schwache Stellung vieler Familien das andere. Die Probleme reichen mittlerweile hin bis zu echter Armut; Kinder kommen hungrig in die Schule, Eltern bekommen nicht einmal mehr das Papiergeld zusammen. In anderen Fällen arbeiten beide Eltern, um sich das Leben in der Stadt leisten zu können. Die Kinder sind dann sich selbst überlassen, und wir, die Schule, sind ihre Heimat. Man muss diese Kinder mehr fördern, um ihnen Halt und eine Richtung im Leben zu geben. Für viele Schüler ist es keine Bestrafung, wenn sie nachmittags in der Schule bleiben müssen. Im Gegenteil: Manche verbringen den Tag lieber mit der Lehrerin, zu Hause haben sie keinen Ansprechpartner.

SZ: Zwölf verschiedene Kulturen in der Klasse - in München ist das Alltag. Wie kommen Lehrer damit klar? Lucic: Wenn die Schüler gut deutsch können, gibt es kaum Probleme. Wir haben aber sehr viele Schüler, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Hinzu kommen genügend deutsche Schüler, die die Sprache ebenfalls nicht richtig beherrschen. Schüler mit Migrationshintergrund kennen außerdem andere Festtage als wir, andere Bräuche, andere Gewohnheiten und Umgangsformen. Was für uns ein Spaß ist, beleidigt sie. Lehrer müssen aufpassen, dass ein Schüler nicht versehentlich mit einer Bemerkung verletzt wird. Ein sozial gefestigter junger Mensch würde sich in diesem Fall zurückziehen, dieser Schüler aber reagiert aggressiv. Dies alles betrachtet, brauchen wir mehr Betreuung und somit mehr Lehrer. Und nicht immer weniger, wie es von Jahr zu Jahr der Fall ist.

SZ: Der Kultusminister sagt, es gebe genügend Hauptschullehrer. Lucic: Bayernweit gesehen ist das vielleicht so. In München fehlen sie aber definitiv. Wir bekommen von Niederbayern oder aus der Oberpfalz Lehrer zugeteilt, viele treten den Dienst gar nicht erst an. Vor allem Grundschullehrer, die an die Hauptschulen abgeordnet werden, schrecken häufig zurück. Aktuell haben wir eine Hauptschule in München, die mit drei Grundschullehrern entlastet werden sollte. Alle drei sind am ersten Schultag nicht gekommen.

SZ: Was schreckt sie ab? Lucic: Die Kollegen wissen, was hier los ist. Unsere Kinder brauchen mehr Aufmerksamkeit als die auf dem flachen Land. Dazu kommt der geringe Verdienst. Die Lebenshaltungskosten sind in München um 30 Prozent höher als in der Region, Lehramtsanwärter verdienen aber nur 900 Euro im Monat, bei einem Fachlehrer sind es sogar 200 Euro weniger. Viele können hier nur arbeiten, weil sie vom Partner oder den Eltern unterstützt werden oder einen Kredit aufnehmen. Auch deshalb haben wir eine hohen Fluktuation innerhalb der Lehrerschaft, 25 Prozent wechseln jedes Jahr, und die Schule muss sich immer wieder neu zusammenfinden. Andere Lehrer gehen gleich in die freie Wirtschaft.

SZ: Wie wirkt sich der Mangel aus? Lucic: In der Klassengröße zum Beispiel. Im praktischen Unterricht zeigt sich das besonders. Wenn in der zweiten Jahrgangsstufe 26 Kinder beim Werken zusammen sitzen, ist eine individuelle Schulung nicht mehr möglich. Dabei haben wir viele Kinder, die nicht mal eine Schere in die Hand nehmen können, weil die Fein- oder Grobmotorik gestört ist. Wenn die Eltern besser gestellt sind, geht man mit den Kindern zum Therapeuten. An der Hauptschule müssten wir uns darum kümmern. In einem so großen Klassenverband geht das aber nicht. Teilt man die Klassen, was die Schule ja könnte, muss an anderer Stelle Personal gespart werden. Es ist ein Verschiebebahnhof, der sich im ganzen Schulsystem zeigt und keine Probleme löst.

SZ: Das Schulamt will nun freiwillige Angebote streichen. Mit welchen Folgen? Lucic: Wir mussten uns schon erheblich einschränken. Vor fünf Jahren hatten wir an einer kleinen Hauptschule noch fünf Poolstunden in der Woche für pädagogische Maßnahmen zur Verfügung. Dazu gehörte ein Streitschlichter-Programm, das sehr wichtig war, oder eine Lernwerkstatt. Jetzt haben wir dafür noch eine Stunde pro Woche. Ein vernünftiges Angebot ist damit nicht mehr möglich.

SZ: Wie viele Lehrkräfte bräuchten die Hauptschulen, damit sich die Lage etwas entspannen würde? Lucic: Es müsste an jeder Schule mindestens eine Lehrkraft mehr sein, um ein einigermaßen vernünftiges Angebot hinzubekommen. Das Kultusministerium hat das durchaus erkannt. Das Problem ist aber, dass Lösungen nichts kosten dürfen, und damit kommen wir nicht weiter.

© SZ vom 18.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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