Not in der Großstadt (5):Im Sog der Sorgen

Lesezeit: 6 min

Gefangen in der Armutsspirale: Wenn ein Elend das andere nach sich zieht, geht irgendwann ohne staatliche Hilfe gar nichts mehr. Ein Besuch bei zwei Münchner "Multiproblemfamilien".

Sven Loerzer

Ganz von außen betrachtet ist hier alles in bester Ordnung. Der neue Wohnblock im Arnulfpark ,,besticht durch seine präzise Formensprache sowie die Hochwertigkeit in Außenerscheinung und Ausstattung'', lobte eine Architekturexperten-jury. ,,Hierin übertrifft dieser öffentlich geförderte Wohnungsbau so manche freifinanzierte Eigentumswohnanlage.

Arnulfpark: Teure Wohnanlagen liegen neben Sozialwohnungen, in denen Armut herrscht. (Foto: Foto: Heddergott)

An anderer Stelle werden französische Fenster, Parkett und Fußbodenheizung noch als Luxus verkauft.'' Wer genauer hinschaut, kann erkennen, dass hier Menschen leben, deren Leben nicht immer in wohlgeordneten Bahnen verlaufen ist. Der Papierhaufen, der sich vor den Briefkästen im Treppenhaus dieses Neubaus gebildet hat, spiegelt das wider: Unter den vielen Immobilienprospekten, die hier niemand brauchen kann, sticht das aufgerissene Kuvert hervor, in dem ein Hartz-IV-Bescheid gesteckt hat.

Auf den ersten Blick lässt sich nicht erkennen, dass im Arnulfpark nicht nur Wohlhabendere ein neues Zuhause gefunden haben. Rein äußerlich unterscheiden sich die Sozialwohnungsblöcke nicht von ihrem Umfeld. Doch innerhalb der Mauern verdichten sich die Anzeichen, dass dort Menschen leben, die Hilfe brauchen, um mit den Widrigkeiten des Lebens zurecht zu kommen. An den weiß gestrichenen Wänden finden sich Kritzeleien, Schuhabdrücke, Schleif- und Schmutzspuren in einer Zahl, die es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass erst ein dreiviertel Jahr seit dem Einzug der Bewohner vergangen ist.

Flucht aus der Horrorehe

Wenn Helmut Herzog zum Hausbesuch in einen der Sozialwohnungsblocks am Rande der Neubausiedlung kommt, dann könnte er gleich von Stockwerk zu Stockwerk gehen: Allein sechs Familien in diesem einen Haus brauchen die Hilfe des städtischen Bezirkssozialarbeiters aus dem Sozialbürgerhaus in der Schwanthalerstraße.

Bianca Dasic (Name geändert) bittet in ihre Vier-Zimmer-Sozialwohnung, die sie zusammen mit ihrem Ehemann und fünf Kindern im Juni vorigen Jahres bezogen hat. Damit hat sich wenigstens die Wohnsituation etwas verbessert, das Matratzenlager in der früheren, viel zu kleinen Wohnung gehört der Vergangenheit an.

Aber Bianca Dasic gibt sich viel Mühe, hat mit etwas Farbe den Flur zum Leuchten gebracht. Sie hat Wasser aufgesetzt, bietet Tee und Kaffee an, auf dem liebevoll dekorierten Tisch hat sie Schoko-Kekse und Salzgebäck bereitgestellt. Die Idylle auf dem Kaffeetisch lässt im Kontrast die Turbulenzen, in deren Strudel sie auf der Suche nach Glück und Geborgenheit geriet, nur um so stärker aufscheinen.

Ihre Mutter hat sich von dem gewalttätigen Ehemann viel zu spät scheiden lassen nach einer ,,Horrorehe, wir standen nachts oft auf der Straße oder bei Nachbarn vor der Tür''. An ihr selbst, sagt Bianca Dasic, habe er sich nie vergriffen, ,,vielleicht, weil ich seiner Schwester ähnlich sah''.

Die Berufsausbildung hat Bianca Dasic nach nur wenigen Monaten abgebrochen, mit 18 Jahren bekam sie ihr erstes Kind, vor dessen Geburt sie sich bereits von dem Freund getrennt hatte: ,,Er war sehr eifersüchtig, er hat mich auf Schritt und Tritt verfolgt.''

Ihren Sohn brachte das Jugendamt zeitweise bei einer Pflegefamilie unter. Bianca Dasic bezog Sozialhilfe und nahm immer wieder Aushilfsjobs an. Auch die Beziehung zum Vater ihres zweiten Sohnes ging in die Brüche, ,,da stand ich dann mit zwei Kindern allein da''.

Den Vater ihres dritten Kindes wollte sie unbedingt heiraten, ,,danach bin ich zwei Jahre durch die Hölle gegangen''. Eine Bezirkssozialarbeiterin der Stadt habe sie da herausgeholt und mit ihren drei Kindern ins Frauenhaus gebracht. Als sie wieder zurück in die Wohnung kam, ,,war dort alles zerstört''. Nach der Scheidung lernt sie ihren heutigen Ehemann kennen, der Vater des vierten und fünften Kindes wird. ,,Es hat einfach gefunkt'', außerdem verstehe er sich mit allen Kindern super und sei recht fleißig. Der einzige Streitpunkt sei das Geld.

Sein Einkommen als Arbeiter reicht kaum, um der siebenköpfigen Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Denn es seien noch Schulden abzubezahlen, die ihr Mann für die Hochzeit des Bruders gemacht habe, ,,und auch ich habe noch Schulden, muss noch Tisch und Bett abbezahlen''. Die Wohnungseinrichtung ist karg, auf dem Parkett in den Kinderzimmern stehen alte Schränke, für die beiden Kleinsten, die bei den Eltern im Schlafzimmer untergebracht sind, fehlen Kinderbetten, in der Küche Hänge- und Unterschränke.

Bianca Dasic geht nebenbei tagsüber putzen. ,,Mein Mann und ich schränken uns ein, erst kommen die Kinder.'' Zum Einkaufen geht die Mutter nur zu den Discountern, Aldi, Lidl, Penny. Weil der Weg weit und der Bedarf einer siebenköpfigen Familie groß ist, packt sie den Kinderwagen voll.

Die finanzielle Lage ist nicht das einzige Problem. Der älteste Sohn, 13, hat große Schwierigkeiten, sich in der Schule einzugliedern. Die vielen Umzüge, die vielen Väter, das hinterlässt Spuren. ,,Wir sind immer wieder im Gespräch mit der Schule'', sagt der Bezirkssozialarbeiter Helmut Herzog, der sich auch darum bemüht, den anderen Kindern die geeignete Unterstützung zu bieten.

Für den elfjährigen Sohn will er eine Lernhilfe vermitteln. Die neunjährige Tochter besucht bereits eine Tagesheimschule, die beiden jüngsten Kinder sind ganztags in der Krippe untergebracht. Die Mutter hofft, eine Teilzeitbeschäftigung in einer Poststelle oder als Büroaushilfe zu finden. Und die Schuldenprobleme harren auch noch einer Lösung.

Prekäre Mischung

Herzog hilft, ,,wenn Familien nicht aus eigener Kraft in der Lage dazu sind, sich geeignete Unterstützungsangebote zu suchen''. Im Schnitt umfasst die örtliche Zuständigkeit eines Sozialarbeiters etwa 6000 Haushalte. Etwa 120 davon gehören zu seinen Klienten, gut die Hälfte davon brauchen über mehrere Jahre hinweg Unterstützung zur Lebensbewältigung. Weit überwiegend sind es Haushalte mit Kindern, um die sich Bezirkssozialarbeiter kümmern müssen: Bei jedem achten Haushalt mit Kindern ist die Bezirkssozialarbeit eingeschaltet, während nur zu jedem 50. Erwachsenenhaushalt Kontakt besteht.

Oft ist es ein ganzes Bündel von Problemen, die bei den Familien zusammenkommen: Niedriger Bildungsabschluss und fehlende Berufsausbildung haben Langzeitarbeitslosigkeit und damit finanzielle Armut zur Folge, Schulden belasten das Familienleben, die viel zu enge Wohnung erhöht den Stress, wie auch Krankheit und Behinderung sich belastend auswirken.

Suchtprobleme und Gewalt, Mangel an praktischen Fähigkeiten zur Haushaltsführung und Kindererziehung kommen mitunter hinzu. Es ist diese Mischung, die Armut erst so richtig prekär werden lässt, dass sie eine dauernde, nur schwer zu behebende Belastung darstellt. Im Fachjargon ist die Rede von ,,Multiproblemfamilien''.

Gerhild Harrer, Leiterin des Sozialbürgerhauses in der Schwanthalerstraße, kennt die landläufige Erwartung, dass mit der richtigen professionellen Unterstützung solche Familien aus der Armutsspirale schnell herausfinden müssten.

,,Doch dies ist meist ein langwieriger Prozess angesichts der Fülle der Probleme. So ist die Verbesserung der Wohnungssituation oft nur der sichtbare Einstieg in viel tiefer liegende Probleme, die von außen zunächst gar nicht wahrnehmbar sind'', sagt Gerhild Harrer, wie etwa Schulden, familiäre Probleme oder Krankheit. ,,Es dauert oft Jahre, hier wieder Boden unter die Füße zu bekommen - ein Zustand, der Betroffene lähmt, mitunter resignieren lässt. Wir können nur sehr begrenzt helfen.''

Wenn es nicht gelingt, solche Familien zu stabilisieren, dann ist die Gefahr groß, dass Armut ,,vererbt'' wird, Kinder unter solchen erschwerten Bedingungen gar keine Perspektive mehr entwickeln können für ein Leben ohne staatliche Unterstützung.

Die Familien in den Sozialblocks im Arnulfpark kommen aus anderen Sozialbaugebieten wie dem Hasenbergl und Freimann, wo die Wohnungen wegen Familienzuwachs zu eng geworden seien, erklärt Herzog. ,,Viele Familien wurden bereits von anderen Sozialbürgerhäusern teilweise langjährig und intensiv unterstützt und müssen seit längerer Zeit von Sozialleistungen leben.'' Besonders betroffen sind Familien mit Migrationshintergrund: ,,Vielen Migranten fehlen Informationen, wie die Dinge in unserer Gesellschaft geregelt sind'', sagt Herzog. Oft spielen dabei Sprachprobleme eine Rolle.

Die hat Aziza B. zwar nicht, die im gleichen Haus wohnt. Aus Afghanistan ist sie vor mehr als 20 Jahren gekommen, auch ihr Ehemann beherrscht die Sprache gut. Doch der ehemalige Industriemechaniker ist seit vier Jahren arbeitslos und seine Frau nun nicht mehr in der Lage, mit Dolmetschereinsätzen etwas dazu zu verdienen.

Das Leben der Eltern wird bestimmt von der Sorge um den schwer geistig behinderten Sohn und von dessen anstrengender Betreuung und Pflege. Der 15-Jährige braucht viel Hilfe und Unterstützung, von der Körperpflege übers Anziehen bis hin zum Essen, vor allem aber braucht er ständig Aufsicht. Damit er nicht den Kühlschrank ausräumt zum Beispiel. Er ist kräftig, läuft auf der Straße weg, die durch Kinderlähmung behinderte Mutter ist ihm kaum noch gewachsen.

Eine Prophezeiung

Nur ihr Mann kann den Sohn noch festhalten, wenn er sich bei plötzlich auftretenden Autoaggressionen selbst zu verletzen droht. Nachts ist er immer durch die Wohnung gezogen, aber nachdem ihm eine Stiftung zwei Wochen Delphintherapie ermöglicht hat, ist er etwas ruhiger geworden und schläft jetzt durch. ,,Es gibt auch schöne Momente, wenn er uns anlächelt'', sagt die Mutter und die 14-jährige Tochter nickt. Aber es gibt ebenso Wutanfälle. ,,Er kann keine Kinder leiden.'' Die Familie ist deshalb abgeschnitten vom Freundeskreis, die Wohnungstür bleibt abgeschlossen, damit der Sohn nicht davonläuft.

Arbeit hat der Vater nicht mehr finden können, weil sich die nach der Schulzeit des Sohnes richten müsste. Das alles hat die Eltern schwer mitgenommen, wegen Depressionen sind sie in ärztlicher Behandlung. In letzter Zeit gab es Konflikte mit der Tochter, ,,sie lebt zwischen zwei Kulturen'', versucht die Mutter zu vermitteln, ,,wir Afghanen wollen etwas anderes''. Der Vater ergänzt: ,,Ich lebe traditionell.''

Wegen der Unstimmigkeiten haben die Eltern das Gespräch mit dem Bezirkssozialarbeiter gesucht. Herzog hat einen familienentlastenden Dienst eingeschaltet, um den Eltern Freiraum zu verschaffen. Eine Heimunterbringung kommt für die Eltern keinesfalls in Frage: ,,Wir können ihn doch nicht weggeben'', wehren sie empört ab.

Dass sie von wenig Geld leben müssen, psychisch und körperlich an die Grenzen ihrer Kraft gekommen sind, darüber wollen sie sich nicht beschweren, im Gegenteil, sie sprechen von ihrer Freude, dass sie nach elf Jahren endlich eine Sozialwohnung erhalten haben, die für den behinderten Sohn geeignet ist: ,,Wir sind zufriedene Menschen.''

Die Tochter besucht ein Gymnasium und spielt die finanziell knappe Lage herunter. Später sagt sie, dass sie, wenn sie 16 Jahre ist, samstags jobben wird, um Geld zu verdienen. Die Eltern sind besorgt, dass die schulische Leistungen leiden könnten, zumal sie schon eine Klasse hat wiederholen müssen. Schließlich soll doch die Tochter studieren, damit sie es einmal besser hat. Vielleicht geht für sie die Prophezeiung auf einer großen Tafel nur eine Straßenecke weiter in Erfüllung: ,,Wohnen im Arnulfpark - Sag Ja - Beste Zukunftsperspektiven.''

© SZ vom 24.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: