Not in der Großstadt (12):Herausgerissen aus dem Leben

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Wer nach 40 Jahren Arbeitsleben von einem Tag auf den anderen den Job verliert, fällt ins Nichts - und in Hartz IV.

Doris Näger

Nichts an Amelie Ritter spricht von Armut. Sie trägt ihr Haar modisch kurz, dazu eine passende Brille mit breitem Rand. Ihren schlanken, zierlichen Körper hat sie in schwarze Jeans gesteckt, dazu schwarze College-Schuhe mit etwas Absatz und ein rotes Shirt, alles sehr gepflegt. Amelie Ritter heißt in Wirklichkeit natürlich anders, weil sie in keinster Weise ihren Perspektiven schaden will. Sie glaubt immer noch daran, dass sie bald wieder eine Arbeit findet. Selbst nach knapp zwei Jahren kann sie es immer noch nicht fassen, was ihr da eigentlich passiert - dass sie dank Hartz IV nur noch 300 Euro zum Leben hat.

Amelie Ritter wird vom Projekt "50 plus" unterstützt (Foto: Foto: Rumpf)

Amelie Ritter sieht viel jünger aus. Aber ihr Pass verordnet ihr 56 Jahre. Und damit gehört sie in die prekäre armutsbedrohte Gruppe "langzeitarbeitslos, 50 plus". Von den mehr als 27 000 Hartz-IV-Betroffenen in München zählt zu Ritters Gruppe ungefähr ein Drittel, das sind fast 8000 Menschen. Sie haben zwar auch nicht weniger Geld als andere Arbeitslosengeld-II-Bezieher. Aber oft wurden sie mitten aus ihrer Berufstätigkeit und aus einem scheinbar geordneten Leben gerissen.

Wurden bei so genannten Restrukturierungen ihrer Firma entlassen und tun sich seither schwer, wieder Fuß zu fassen. Trotz vieler Jahre im Beruf fällt seit Hartz IV das Beil recht schnell. Früher fing der Sozialstaat sie mit einer vergleichsweise stattlichen Arbeitslosenhilfe auf. Seit 2005 müssen sie manchmal schon nach einem Jahr ihre Kontoauszüge ins Amt tragen, ihre Ersparnisse aufbrauchen, die Lebensversicherung verhökern und - so empfinden es dann viele - sich einreihen zwischen Alkoholiker, chronisch Kranke und Sozialhilfe-Adel.

Bisher kein Glück

Die Chance für diese Menschen, wieder Arbeit zu finden, ist nicht gerade rosig. Obwohl sich das seit dem aktuellen Aufschwung etwas bessert. "Arbeitgeber sind zunehmend offener und aufgeschlossener", sagt Hartmut Jetting. Er ist stellvertretender Projektteamleiter bei Kompaqt, einem Projekt für diese Zielgruppe, das die Bundesregierung mitfinanziert. Auch Amelie Ritter lässt sich hier unterstützen. Doch bisher hatte sie kein Glück.

Am 1. April hätte sie ein Jubiläum feiern können: 40 Jahre im Job. Doch das wurde Amelie Ritter rechtzeitig vereitelt. Jahrzehntelang hatte sie als Sekretärin und Assistentin für Abteilungen, Niederlassungsleiter, Geschäftsführer und Vorstände gearbeitet, unter anderem bei Lufthansa, bis sie vor drei Jahren zum ersten Mal ohne Job dastand. Sie musste ihre alte Wohnung kündigen, zog um in 30 Quadratmeter in einem Münchner Randgebiet. Nach einem Jahr fand sie eine befristete Stelle. Als diese auslief, sie war noch nicht einmal 55, erhielt sie das normale Arbeitslosengeld nur noch für ein dreiviertel Jahr.

Spätestens jetzt wird ihre Situation doch augenfällig: an der Enge, in der sie lebt. Ein winziges Bad ohne Fenster, eine Schuhschachtel-Küche, immerhin mit Blick auf die Wiese hinter dem Haus, ein Raum, mittels gut gefülltem Bücherregal in einen Schlaf- und einen Wohnbereich getrennt. Sie hat das Beste draus gemacht. "Ich muss Ihnen meine Badvorleger zeigen", sagt Amelie Ritter stolz und geht die wenigen Meter voraus. "Der eine hat sechs Euro, der andere vier gekostet." Für solche Preise "muss man eine Weile suchen".

Zwanzig Jahre altes Sofa

Aber sie erfüllen ihren wichtigsten Zweck: "Sie sind bunt", sagt die sonst so ernste Frau lächelnd. Sie zeigt den alten Schrank, den sie von ihrem Großvater geerbt hat, das Bett mit Latexmatratze, Second Hand, das Laptop, ein Geschenk ihrer Freundin.

Ihr türkisfarbenes Designersofa ist 20 Jahre alt und stammt aus der Zeit, als sie sich von ihrem Gehalt so etwas noch leisten konnte. Insgesamt passt ohnehin nicht viel auf die paar Quadratmeter. "Schon als ich aus meiner früheren Wohnung hier eingezogen bin, musste ich viele schöne alte Möbel verkaufen - ich brauchte Geld und hatte keinen Platz mehr".

Auf dem Sofa blättert Ritter widerwillig in einem Ordner, um noch mal nachzusinnen, wann alles begann. "Die Würdelosigkeit ist das Schlimmste." Sie erinnert sich, wie schlecht sie sich oft von Behörden behandelt gefühlt hat, oder an Ärger mit Überweisungen. Als ihr ins Gesicht gesagt wurde, sie werde in ihrem Alter wohl kaum mehr Arbeit finden, stürzte sie in eine tiefe Depression.

"Ich habe 40 Jahre gearbeitet, und immer mein eigenes Geld verdient, war unabhängig, habe auch noch meinen Mann während des Studiums mitversorgt", sagt sie anklagend. Immer habe sie sich weitergebildet, mal in Sachen Computer, dann in Sprachen. Genützt habe es ihr bislang kaum. Sie hat Bewerbungen geschrieben, auf Papier und als E-Mail, hat in Unternehmen angerufen, persönlich vorgesprochen.

Das Zählen hat sie aufgegeben. "Irgendwann fällt es immer schwerer, weiter Bewerbungen zu schreiben, weil man es nicht mehr ertragen kann, Absagen zu bekommen oder womöglich gar nichts zu hören." Und das kostet auch alles Geld. Wenigstens kann sie derzeit für 400 Euro in einer Personalberatung arbeiten. Aber mehr wird daraus nicht entstehen. Das weiß sie jetzt schon.

Ein alter Kredit

Sie hat dadurch ein bisschen mehr Geld, ja: Die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung überweist ihr 811 Euro, ihr Arbeitgeber 400. Neben Mietzuschuss und Regelsatz hat sie Anspruch auf einen befristeten Zuschlag von 160 Euro Übergangsgeld, der vom 1. Mai an jedoch halbiert wird. Das ist ein Zuschuss, den der Gesetzgeber erfand, um Hartz IV in den ersten Jahren für die frisch Arbeitslosen sozial abzufedern. Von den derzeit insgesamt 1211 Euro stottert sie monatlich 123 Euro für einen alten Kredit bei der Stadtsparkasse ab.

Ritter rauft sich die Haare: "Die Rate war früher noch höher - dass die Stadtsparkasse sich auf eine niedrigere eingelassen hat, dafür musste ich erst an den Vorstand schreiben." Mit 50 Euro zahlt sie einen weiteren kleinen Kredit ab. 582 Euro kostet die Gesamtmiete. 36 Euro gehen für eine Haftpflichtversicherung und eine Rechtsschutzversicherung drauf, die sie wegen schlechter Erfahrungen nicht missen will. 82 Euro für Telefon, Handy und Internet, 17 für die GEZ. Bleiben 320 Euro zum Leben. Vor der ersten Arbeitslosigkeit hatte sie insgesamt 1800 Euro netto.

Ritter sagt den Satz immer wieder im Laufe des Gesprächs, als könnte sie es beschwören: "Ich will arbeiten, und möchte gern eine gut bezahlte Stelle!" Sie brauche ja auch eine Rente. Drum gibt Ritter nicht nur Geld für Telefon und Internet-Anschluss aus, auch für Haarschnitt und Kleider. Natürlich hat sie sich einen günstigen Friseur ausgesucht, Hosen und Schuhe stammen aus dem Second-Hand-Laden. Sie habe auch gelernt, von anderen etwas annehmen zu können, "ohne mich schlecht zu fühlen." Im Supermarkt sucht sie nach abgelaufener Ware, "die gibt es billiger". Wenn sie ihre alte Mutter besucht, dann kommt sie beladen zurück: mit Marmelade, Dosenwurst, Tiefgefrorenem und Eiern von Mutters eigenen Hühnern.

Amelie Ritter hat das Gefühl, sich schon irgendwie helfen zu können; aber die anderen, "die nicht der wehrhafte Typ sind und nicht reden können, was machen die? Die haben keine Lobby, denen hilft auch das Arbeitsamt nicht." Sie ist enttäuscht von der Politik, vom System Deutschland. "Ich habe den Laden mit aufgebaut, und jetzt muss ich mich doof anschauen lassen." In ihren großen Augen steht Empörung: "Ich würde sofort auswandern, wenn ich nur könnte."

© SZ vom 21. April 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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