Niznansky:Die Mordkommandos von Ostry Grun

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Im Prozess gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Niznansky sprechen viele Indizien dafür, dass die wahren Täter noch frei sind.

Von Alexander Krug

Der Mann hat sich stets unter Kontrolle. Seit nunmehr zwei Monaten sitzt Ladislav Niznansky, 87, auf der Anklagebank am Schwurgericht. Konzentriert lauscht er jedem Wort, was ihm nach zwei Schlaganfällen sichtlich schwer fällt. Kaum eine Regung ist ihm zu entlocken, nur ab und zu schüttelt er unwillig den Kopf, wenn alte Kameraden als Zeugen gegen ihn aussagen. 164 Morde soll Niznansky vor fast 60 Jahren begangen haben. Doch vieles sprich dafür, dass die wahren Täter sich noch ihrer Freiheit freuen - soweit sie noch leben.

An das Massaker in Ostry Grun erinnert heute eine Gedenkstätte in dem slowakischen Bergdorf. Am 21. Januar 1945 erschossen Milizen dort die verbliebene Bevölkerung - Alte, Frauen, Kinder. (Foto: Foto: LKA)

Spurensuche: Am 21. Januar 1945 rücken frühmorgens bewaffnete Milizen in das slowakische Bergdorf Ostry Grun ein. Die Region gilt als Rückzugsgebiet der Widerstandsgruppe um den slowakischen Hauptmann Jan Nalepka, zweimal schon hat man deshalb vergeblich einen Vorstoß unternommen. Diesmal haben die Deutschen alle Kräfte zu einem Vernichtungsschlag mobilisiert. Es ist ein zusammengewürfelter Haufen, bestehend aus der "Abwehrgruppe 218 Edelweiß", eine rund 300 Mann starke Spezialeinheit von Slowaken, Kaukasiern, Kosaken und Deutschen. Aus umliegenden Dörfern sind mehrere hundert Männer vom so genannten Deutschen Heimatschutz zusammengekommen, getrieben von Rachegelüsten und der Aussicht auf Beute. Schließlich ist auch eine unbekannte Zahl von SS-Soldaten darunter.

Die Partisanen haben sich längst zurückgezogen, nur Alte, Kinder und Frauen sind im Dorf. Sie werden vor dem Haus der Familie Debnar zusammengetrieben. Nach Stunden des Wartens kommt eine motorisierte Abteilung in das Dorf. Es sind junge deutsche Soldaten der Waffen-SS in weißen Tarnanzügen. Ein Mädchen fragt einen der Männer nach dem Totenkopfabzeichen auf seiner Mütze. Noch Jahrzehnte später erinnert sie sich an die Antwort: "Das erwartet euch heute noch." Wenig später beginnt ein Offizier mit der Erschießung der Dorfbewohner. "Jetzt betet", ruft er, bevor seine Maschinenpistole rattert. Nach dem Massaker rücken die Einheiten in das drei Kilometer entfernte Bergdorf Klak ein. Dort geht das Morden weiter. Am Ende des Tages liegen die Leichen von 146 Männern, Frauen und Kinder auf den Straßen und in den Häusern.

Nichts mitbekommen?

Ladislav Niznansky war damals Hauptmann der 130 Mann starken slowakischen Abteilung von "Edelweiß". Er will an jenem Tag mit einer Gruppe die hügelige Umgebung durchstreift und nichts von den Massakern im Tal mitbekommen haben. Kommandeur von "Edelweiß" war Major Erwein Graf Thun-Hohenstein. Nach Recherchen der SZ im Wiener Kriegsarchiv entstammte er einem uralten Tiroler Adelsgeschlecht. Großvater und Vater waren hoch dekorierte Offiziere in der Kaiser und Königlichen (KuK) Armee der Donaumonarchie. Auch der 1896 in Wien geborene Erwein besuchte die Kavallerie-Kadettenschule und meldete sich bei Kriegsausbruch freiwillig zu den "Schwarzenberg-Ulanen". Wegen "beispielhafter Tapferkeit und Kaltblütigkeit" hatte er es bald wie seine Vorväter zu Orden und Medaillen gebracht. Nach dem Ersten Weltkrieg soll der Oberleutnant d. R. 1920 am so genannten Kapp-Putsch in Berlin mitgewirkt und sich später in Argentinien erfolglos als Farmer versucht haben.

1940, immerhin schon 44 Jahre alt, wurde er zum freiwilligen Kriegsdienst aufgefordert. Aufgrund seiner Sprachbegabung - Thun-Hohenstein konnte eine Vielzahl von Sprachen, vor allem perfekt Russisch - wurde er dem Amt Abwehr/Ausland des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) unter der Führung von Admiral Wilhelm Canaris zugeteilt und kam zum "1. Lehrregiment Brandenburg zbV 800", einer berüchtigten Spezialeinheit, die in Tarnuniformen im Rücken des Feindes operierte, Sabotageaktionen verübte und gegen Partisanen eingesetzt wurde.

Thun-Hohenstein wurde nach dem Überfall auf die Sowjetunion beauftragt, aus russischen Kriegsgefangenen Freiwillige (meist ukrainische Nationalisten) zu rekrutieren, aus denen er Stoßtrupps zusammenstellte. Der patriarchalische Thun-Hohenstein soll bei seinen Männern, die er gerne als "Thunfische" oder "Kosakenregiment" bezeichnete, sehr beliebt gewesen sein. Er pflegte gerne die Attitüde des KuK-Offiziers, heißt es, gemischt mit einer Portion Abenteuerlust" und Draufgängertum.

Nach dem Wenigen, das sich feststellen lässt, war Thun wohl kein politisch überzeugter Nazi. Durch seine bedingungslose Hingabe machte er sich aber zum treuen Erfüllungsgehilfen des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion. Durch und durch Soldat, sammelte er Orden und sollte sogar mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet werden, der höchsten Auszeichnung des Dritten Reiches. Das scheiterte 1944 offenbar daran, dass er bis 1937 mit einer "Halbjüdin" verheiratet gewesen und wegen "Beleidigung des Führers" zu fünf Tagen Stubenarrest verurteilt worden war.

1943 wurde er schwer verletzt und von der Auslandsspionage nach Rom geschickt. Im November 1944 erinnerte man sich im Reichssicherheitshauptamt seiner Erfahrung und erteilte ihm den Auftrag, in der Slowakei die Spezialeinheit "Edelweiß" aufzustellen. Dort war soeben der slowakische Nationalaufstand gescheitert, und viele Armeeangehörige hatten sich den Partisanen angeschlossen. Auch Hauptmann Ladislav Niznansky war auf der Flucht vor den Deutschen. Doch mit den Partisanen zu kooperieren, kam für ihn nicht in Frage: "Keine Armee der Welt kann Partisanen dulden, das ist keine Nazi-Erfindung."

Mitte Dezember 1944 kreuzten sich die Wege von Niznansky und Thun-Hohenstein zum ersten Mal. Thun habe ihm gedroht, er komme ins KZ, wenn er nicht bei "Edelweiß" eintrete, behauptet Niznansky. Doch an dieser Version gibt es Zweifel. Niznansky hatte bereits für die deutsche Armee in Russland gekämpft und war mit dem Eisernen Kreuz (EKII) ausgezeichnet worden. Auch hatte er anlässlich eines früheren Ermittlungsverfahrens 1965 nichts von einem derartigen Zwang berichtet. Schließlich blieb er bis zum Kriegsende an Thuns Seite und bekam zuletzt noch das EK I überreicht. Alle anderen Mitglieder von "Edelweiß" hatten sich da längst abgesetzt.

Vieles deutet darauf hin, dass sich Niznansky von Thun blenden und beeindrucken ließ wie so viele, die er als seine "Thunfische" anwarb. Dafür sprechen seine Bemerkungen im Prozess. "Er war ein älterer distinguierter Gentleman", sagt Niznansky noch heute voller Respekt. "Auf mich machte er den Eindruck eines rechtschaffenen Offiziers der alten Schule." Thun sei ein "schrulliger", aber kein brutaler Typ gewesen, der auf den Einsätzen im Partisanengebiet Lodenjacke, Bundhose und einen Stock getragen habe. In solchen Sätzen ist keine Rede mehr davon, dass ihn Thun einst zur Mitarbeit "gezwungen" hatte.

Ermordet an Ort und Stelle

Tarnung, Täuschung und die Schaffung von Legenden gehörten zum Leben des Spionagespezialisten Thun, und vermutlich war auch Niznansky ein Getäuschter. Denn dem gaukelte er vor, er sei wegen Beleidigung der deutschen Regierung zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Seine Familie sei im KZ, und er sei nur freigekommen, weil er sich freiwillig zur Front gemeldet habe.

Thuns "Edelweiß"-Kommando war keine typische Mordeinheit. Aber auf das Konto der Einheit gehen vermutlich zahllose Verbrechen in den letzten Kriegsmonaten in der Slowakei. Vornehmlich operierte man gegen Partisanen, aber auch die Verfolgung von Juden zählte zu ihrer Tätigkeit. Von einst 90000 slowakischen Juden lebten Mitte 1944 noch rund 20000, die in Erdbunkern in den Wäldern auf ein Überleben des Krieges hofften. "Edelweiß" half beim Aufspüren dieser Verzweifelten, viele wurden an Ort und Stelle ausgeraubt und ermordet.

Thun-Hohenstein war ein jahrelang trainierter Spezialist des hinterlistigen Kampfes. Mitunter trat er in der Uniform eines russischen Majors auf, um sich das Vertrauen der Partisanen zu erschleichen. Wurde seine Gruppe enttarnt, kam es zu blutigen Handgemengen, bei denen die Partisanen mit Dolchen erstochen wurden. Thun benutzte dafür seinen Stock, an dem ihm so viel lag, dass er ihn bei Kriegsende einem Vetter zur Aufbewahrung gab. Nach diesen Einsätzen sei Thun stets "seelisch-psychisch erschöpft" gewesen, schrieb 1982 ein ehemaliger Weggenosse an einen Verwandten Thuns. "Interessant waren auch die schweren körperlichen und psychologischen Belastungen dieser Männer", konstatierte der Briefschreiber - offenbar ohne zu bemerken, wie sehr solche Sätze an Himmlers Geheimrede 1943 in Posen vor SS-Gruppenführern erinnern: "Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen (...) Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte."

Thun war ein willfähriger Helfer eines gnadenlosen Systems, das auch noch in den letzten Kriegstagen in ganz Europa seine blutige Spur hinterließ. Doch wie steht es um seine und Niznanskys Verantwortung für die Massaker in Ostry Grun und Klak?

Vieles spricht dafür, dass die Gräuel vornehmlich auf das Konto von Waffen-SS-Einheiten gehen. In den Wirren der letzten Kriegsmonate tummelten sich unzählige Verbände in der Mittelslowakei, bislang sind ihre Einsätze noch nicht vollständig erforscht. So war ausgerechnet in jenem Januar 1945 in Prievidza, rund 20 Kilometer von den Bergdörfern entfernt, die berüchtigte Einheit "Dirlewanger" stationiert. Das Sonderkommando, 1941 von Himmler aus vorbestraften Wilddieben gebildet, hatte sich den Ruf einer brutalen und menschenverachtenden Truppe mit zahllosen Gräueltaten vor allem im Russlandfeldzug erworben. Oskar Dirlewanger, ein Nazi der ersten Stunde, wird von dem Historiker Knut Stang als "psychisch instabiler Gewaltfanatiker" charakterisiert, der sich an "Sadismus, Kampf und Alkohol" berauschte. Dirlewanger war ein Protagonist des Terrorkrieges; Massenvergewaltigungen gehörten ebenso zum Repertoire seiner Truppe wie Massenerschießungen.

"Ein großer Schießer"

Von Mitte 1944 an operierte auch die "Einsatzgruppe H" in der Slowakei. Bereits im Russlandfeldzug waren die verschiedenen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei zu reinen Mordkommandos mutiert, die Historikerin Tatjana Tönsmeyer bezeichnete sie als "eine Gestapo auf Rädern". Den Kern der Einsatzgruppe H bildeten in der Slowakei die Einsatzkommandos (EK) 13 und 14. Die historische Forschung hat den konkreten Einsätzen dieser Verbände bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, vieles liegt im Unklaren. Fest steht, dass am Ende des Krieges in der Slowakei 176 Massengräber mit 2792 Männern, 720 Frauen und 211 Kindern gefunden wurden.

Der Kommandeur der EK 14 war SS-Hauptsturmführer Georg Heuser, ein gelernter Kriminalkommissar und ausgebildeter Jurist. Er wurde nach dem Krieg Chef des Landeskriminalamts in Rheinland-Pfalz und erst 1963 wegen Gräueltaten in Minsk angeklagt. Heuser sei ein "großer Schießer" gewesen, gab damals ein Zeuge im Prozess zu Protokoll. "Den müssten sie mal an der Grube sehen." Heuser wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt, kam aber nach sechs Jahren schon wieder frei. Wegen der Verbrechen in der Slowakei wurde er nie angeklagt, er starb friedlich 1989. Nicht zu vergessen ist schließlich auch der "Deutsche Heimatschutz", der sich besonders bei dem Morden in Klak hervorgetan haben soll. Einer dieser selbst ernannten Richter über Leben und Tod sagte zu einer Frau: "Raus aus dem Haus, ich bin hier Gott."

Wie viele dieser - um ein Wort des Historikers Christopher Browning zu benutzen - "ganz normalen Männer" heute noch leben, wird sich wohl nie mehr aufklären lassen. Niznanskys Vorgesetzter, Major Erwein Graf Thun-Hohenstein, ist für die Justiz nicht mehr greifbar: Er geriet im Mai 1945 mit Niznansky in russische Kriegsgefangenschaft, hatte aber weniger Glück als er. Am 18. Januar 1946 wurde er von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und einige Tage später per Genickschuss hingerichtet. Die sicherlich aufschlussreichen Akten lagern noch heute in russischen Archiven, sind aber unter Verschluss. In der Todeszelle soll er sich von seinen Mitgefangenen mit den Worten verabschiedet haben: "Sagt Stalin, dass er mich am Arsch lecken soll."

Der Prozess gegen Niznansky wird möglicherweise noch Monate dauern, da die Richter bereits angedeutet haben, dass sie sich nicht unter Druck setzen lassen wollen. Sie wissen um die internationale Aufmerksamkeit und wollen akribisch jeder Spur nachgehen. Wenn Niznansky am Ende juristisch nicht zu belangen sein wird, wofür einiges spricht, stellt sich am Ende eine Frage, die kein Gericht beantworten kann: die der moralischen Verantwortung.

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