Neuer Forschungsreaktor in Garching:Wettlauf zu den Quellen

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Von Grenoble bis Garching - überall werden Reaktoren, die Neutronen für Experimente liefern, von Forschern belagert.

Von Christopher Schrader

Für Thomas Brückel sind sie ein ¸¸Geschenk der Natur" - eines, das der Menschheit an nicht genug Orten dargebracht werden kann. Denn Neutronen - also die neutralen Bausteine des Atomkerns, die dort die positiv geladenen Protonen "zusammenkleben" - taugen als Untersuchungswerkzeug für ein breites Spektrum von Wissenschaften.

"Von der Festkörperphysik über Biologie, Ingenieurswissenschaften, Materialforschung, Geologie bis hin zur Archäologie", zählt Brückel auf, der am Forschungszentrum Jülich arbeitet und nebenher das "Komitee Forschung mit Neutronen" leitet, die Interessenvertretung der deutschen Fachwissenschaftler.

Wegen der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten könne Deutschland "glücklich sein, dass nun in München einer der modernsten Reaktoren der Neutronenforschung in Betrieb geht", sagt Brückel.

Forscher stehen Schlange

Doch der Reaktor in Garching ist längst nicht die einzige Anlage ihrer Art hier zu Lande: In Berlin, Jülich und Geesthacht bei Hamburg produzieren ebenfalls Kernreaktoren Neutronen. Hinzu kommt weitere zwölf Anlagen in Europa, ein Dutzend in Nordamerika, sowie etwa sechs in Asien und Australien.

Ob die Münchner Neutronenquelle überhaupt notwendig sei, wurde denn auch in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt. Für Brückel ist die Antwort klar: Nur wenige Anlage genügten den Ansprüchen, und bei allen drängten sich die Forscher um den Zugang.

"Die Anlagen sind in der Regel um einen Faktor zwei oder drei überbucht." Die Programmkomitees, die über die Nutzung entscheiden, gäben daher jeder Disziplin gleich schlechte Chancen: Überall würde nur etwa jeder zweite bis dritte Antrag angenommen - die Mehrzahl der Neutronenforscher kann die begehrten Anlagen nicht nutzen.

Eben darum hatten die europäischen und besonders die deutschen Forscher auf eine Neutronenquelle neuer Art gehofft. Bisher werden die Neutronen zumeist in Kernreaktoren produziert: Wenn in diesen Uranatome zerfallen, setzen sie jeweils ein oder zwei Neutronen für die Forscher frei; ein weiteres wird für die Kettenreaktion gebraucht.

Die Neutronen fließen dann kontinuierlich zu den installierten Experimenten. So arbeitet sowohl der FRM-II in Garching als auch die weltweit stärkste Quelle im französischen Grenoble.

Die Anlagen neuen Typs, die "Neutronen-Spallationsquellen", liefern den Forschern hingegen Pulse mit einer ungleich höheren Menge an Neutronen. In ihnen knallt ein beschleunigtes Elementarteilchen zum Beispiel in einen Bleikern, wobei auf einen Schlag zwanzig Neutronen frei werden.

Eine solche Spallationsquelle sollte bis 2012 auch in Europa errichtet werden, nachdem Institute in Amerika und Japan bereits mit dem Bau eigener Quellen begonnen haben. Doch dann zog die Bundesregierung ihre Bewerbung um die 1,5 Milliarden Euro teure Anlage zurück, später wurde das Projekt auch in der EU auf Eis gelegt.

Flugdauer, Streuung, Eigendrall

So sind die Neutronenforscher auf internationale Zusammenarbeit angewiesen. Diese ist bereits stark ausgeprägt: "In Jülich stellen die Amerikaner die zweitgrößte Gruppe von Forschern nach den Deutschen", sagt Thomas Brückel.

Neben dem Neutronenfluss selbst entscheidet die Auswahl der Instrumente darüber, wo Wissenschaftler für ihre Experimente die besten Bedingungen finden - je nachdem, ob sie sich für die Flugdauer, die Streuung oder den Eigendrall der Neutronen interessieren.

Die Jülicher Forscher sorgen schon für den Zeitpunkt vor, an dem die beste Neutronenquelle nicht mehr in Grenoble steht, sondern in Oak Ridge in den USA. Sie wollen dort ein eigenes Instrument aufbauen, um im Gegenzug die neue Superanlage auch selber nutzen zu können.

(Süddeutsche Zeitung vom 9.6.2004)

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