Nachtgedanken:Einsam im Dampftopf

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Allein mit dem Bauwerk: Probeschlafen in einer Privatloge der Allianz-Arena - ohne Bierdunst und Kollektivgeschrei. Von Alex Rühle

Anpfiff: Zwanzig Uhr. Es ist noch hell. Eine freundlich-gestrenge Mitarbeiterin der Stadion GmbH eskortiert den Spieler und erklärt ihm dann die Regeln: Nicht rumlaufen. Nicht rumlaufen. Und auf keinen Fall unerlaubt rumlaufen.

(Foto: Foto: ddp)

Die Tür fällt ins Schloss, das Spiel beginnt: ¸¸Stadionnacht" ist ein Geduldsspiel für eine Person, ein Stadion und eine Nacht. Zubehör: Ein Schlafsack, ein Handy, ein Schlüssel für die Loge 40, eine der privaten Logen der Allianz-Arena, ein Block, ein Stift. Man spielt dieses Spiel allein. Das Spielbrett ist x mal y Meter groß und hat z Sitzplätze. Der Spieler setzt seine Figur auf einen dieser Plätze und bewegt sich erstmal nicht vom Fleck.

Drei Dinge sind selbstverständlich, wenn man ins Stadion geht: Man kommt kurz vor Spielbeginn und geht kurz nach Spielende wieder. Man kommt in erster Linie, um das Spiel anzuschauen. Man schaut es in der Masse an? Was, wenn man es mal genau umgekehrt machte? Nicht in der Masse, sondern mutterseelenallein. Nicht, um ein Spiel anzuschauen, sondern l"art pour l"art, um einfach da zu sein? Und das Ganze nicht zeitlich schlank und funktional am Nachmittag, sondern für eine ganze Nacht?

Die Idee entstand, als im Fernsehen ein kleiner Bericht über einen der Logenbesitzer der Allianz-Arena gezeigt wurde. Der Mann war Klinkenfabrikant und glitzerte geradezu in seinem Stolz darauf, dass er dank seiner Loge jetzt ja jederzeit in ¸¸sein Stadion" könne, nicht nur am Samstag.

Amseln auf den Rängen

Als Uli Hoeneß das von ihm so gehasste Olympiastadion ¸¸stimmungsmäßig" mit dem Zentralfriedhof von Chicago verglich, echauffierte sich die ganze Welt. Dabei herrscht auf dem Zentralfriedhof von Chicago vermutlich eine angenehme, menschenfreundliche Stimmung: Vögel, Stille und ein paar Gespenster. Hoeneß sollte mal eine Nacht in seinem neuen Stadion verbringen, dort geht es stimmungsmäßig erst recht zu wie auf einem gut geführten Zentralfriedhof. Man hört am frühen Abend: eine Amsel, das Rauschen der Autobahn, ab und zu ein Flugzeug. Sonst ist da nichts. Kein lärmender Pulk, kein nervöses Rumgekicke, kein Gerempel. Kein sanfter Bierdunst im Stadionrund und keine uringlitzernden Berberitzen auf dem Weg dorthin.

Ein einzelner Logenplatz am Abend. Statt Zeit wie bei einem Fußballspiel als dramatischen Countdown zu erleiden, sitzt man in kontemplativer Ruhe da und schaut. Von unten starren die hochgeklappten Stühle wie Froschmäuler. Hier oben, im Logengürtel, sind die Sitze mit Schonbezügen überstülpt, als hätten sie geschäftsmäßig Staubmäntel an. Wolken in Allianzarenagrau ziehen überm Dach dahin. Sieh an, da unten im Sechzehner hüpft ja die laute Amsel rum. In der Nähe des Elfers muss es Regenwürmer geben.

Schaut man auf den Rasen des Olympiastadions, fallen einem sofort historische Szenen ein, Schwarzenbecks Verzweiflungsschuss in der letzten Sekunde des Europapokal-Finales gegen Real Madrid; Breitners Elfmeter gegen die Holländer; ein fulminantes Solo von Sagnol. Hier in der Arena ist noch alles wunderbar unbespielt, der Rasen unbeschrieben.

Das dtv-Lexikon definiert den Begriff Sport als ¸¸eine körperliche Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird, aus Freude an der Überwindung von Schwierigkeiten und meist unter Anerkennung bestimmter Regeln". Es kostet überraschend viel Überwindung, im leeren Rund laut ¸¸Tor" zu schreien. Im kollektiven Torschrei löst man sich auf in der Masse. Man hat das Gefühl, der eigene Schrei und der der anderen verschmelzen zu einem Gebrüll. Alleine aber ist es dürr und dürftig.

Schon zuhause vor dem Fernseher ist es einem ja peinlich, sobald der eigene dünne Schrei von den vier Wänden hallt. In der Arena wirkt ein vereinzeltes ¸¸Tor!" vollends grotesk. Es ist in diesem riesigen Raum, als wolle sich der Schrei sofort in den eigenen Mund zurückflüchten. Wie ein verschrecktes Kleinkind, das sich im Rock der Mutter verstecken will. Man möchte das Stadion fast um Entschuldigung bitten.

Verbotener Rasen

Dreiviertel zehn, das Stadion im Dunkel, es wird kalt, Rückzug in die kleine Loge. Das Experiment schrumpft auf die klägliche Erfahrung zusammen, in einem nüchtern eingerichteten Konferenzraum zu nächtigen. Kurzer Anruf bei der Spielerfrau. Sie fragt, was der Schmarren eigentlich solle. Die Zeit zwischen zehn Uhr und halb fünf ist eindeutig eine Durststrecke. Was für ein elend harter Boden. Beim nächsten Mal unbedingt Schienbeinschützer mitnehmen. Oder eine Isomatte. Draußen ist es völlig still.

Aus, aus, die Nacht ist aus! Geweckt wird man von Vogelgezwitscher. Vogelgezwitscher! Genau so muss es sein, wenn einen die ähnlich verschrobene Idee anwandeln sollte, eine Nacht auf dem Zentralfriedhof von Chicago zu verbringen: der knöcherne Boden, als Hintergrundrauschen die Stadtautobahn, und ein Vogelkonzert. In den Lamellen müssen acht bis zehn Paare nisten. Es ist, als wachte man im Wald auf.

Auf dem Weg über Rolltreppen zum verwaisten Parkplatz öffnet sich überraschend der Gang nach rechts. Da liegt das Spielfeld, zehn Meter entfernt. Ja, es gab eine Abmachung, kein Rumlaufen, aber das ist zu viel der Versuchung für einen schwachen Menschen.

Wie kompakt die Arena von hier unten wirkt. Der ganze leere Kessel drückt aufs Spielfeld runter. Als sei da die ganze Zeit eine stehende Druckwelle. Kurzer Versuch eines nachdenklichen Beckenbauerschen Weltmeisterschlenderns über den weichen Rasen. Zum Abpfiff ein Anpfiff: Auf Höhe kommt ein Ordner gesprintet, es sei leider verboten, das Feld zu betreten.

© SZ vom 30.05.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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