Letzte Reise:Großer Bahnhof für den "Stolz der Bayern"

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Die Ampeln bleiben länger rot - jetzt kommt eine Dampflok! 15.000 Menschen begleiten den Umzug quer durch die Stadt von der Museumsinsel ins Verkehrsmuseum.

Anja Burkel

Die Gehuldigte schwebt scheinbar führerlos durch München: Keine Menschenseele bevölkert ihr Führerhäuschen, betätigt die Pfeife, prüft die Geschwindigkeit.

Da fährt er, der "Stolz der Bayern"! Freilich fuhr die Schnellzug-Lok nicht selbst, sondern wurde von einem Schwertransporter chauffiert. (Foto: Foto: Catherina Hess)

Fast gespenstisch könnte es anmuten, wie die nostalgische Lok am Sonntag stehenden Rades durch schienenlose Straßen fährt - würden da nicht mehr als 15.000 Menschen am Wegesrand Spalier stehen, sie anstrahlen, ihr zuwinken, radelnderweise verfolgen.

Alles mit nur einem Ziel: Die hinreißend schöne Lok möglichst oft und nahe vors Objektiv zu bekommen.

Auf Tausenden von Fotos ist sie seit gestern verewigt: die 1907 gebaute 85 Tonnen schwere Schnellzuglokomotive S 3/6 e 3634 aus dem Hause Maffei während ihres Umzugs von einem Standort des Deutschen Museums zum anderen.

Allereltzte Reise durch München

Einen Namen machte sich die "Stolz der Bayern" genannte Maschine einst als Lok des Luxuszuges "Rheingold-Express", der von 1928 an auf der Rheinstrecke zwischen Hoek van Holland und Basel verkehrte. Deutlich mehr Aufmerksamkeit erhält sie auf ihrer allerletzten Reise, durch München.

Start: Der Platz vor der Eisenbahnhalle des Deutschen Museums, durch deren Tor sie schon am Samstag mühsam gefädelt wurde. Experten des Logistikunternehmens Schenker sind damit betraut, den Koloss samt Tender auf zwei Schwerlasttransportern sicher durch die Stadt zu bringen.

Anvisiertes Ziel: Das neue Verkehrszentrum des Deutschen Museums auf der Theresienhöhe. In dessen Halle II soll die historische Lok im Ensemble mit einem Original-Mitropa-Speisewagen aus den 1920er-Jahren das Reisen im Dampfzeitalter illustrieren.

Um kurz nach 10 Uhr setzt sich der gigantische Konvoi samt Polizeiautos und Logistikfahrzeugen in Bewegung. Lok und Tender müssen wegen ihres Gewichts nacheinander auf die Corneliusbrücke gekarrt werden. So bietet sich dem dicht gedrängten Volk am Isarufer eine erste ausführliche Gelegenheit zum Fotografieren. "Da muss der ganz schön rangieren", erklärt ein Familienvater, und sagt dann noch, für seine Kinder unhörbar: "Geil!"

Auf ihrem zweistündigen Weg wird die grüne Lok mit den roten Rädern keine Ruhe haben vor den Massen: Menschen klettern auf Zäune und Sicherungskästen, auf Bäume und andere Menschen, um sie besser zu sehen. Mütter recken ihre Kinder in die Luft, auf dass diese dem alten Gefährt noch näher sein können, und mahnen: "Sowas siehst Du vielleicht nie wieder auf der Straße, nie wieder!"

Eine Frau entreißt dem Sohn lieber doch die Kamera, um später nicht nur halbe Lok-Fotos von dem Ereignis zu haben. Ein Pulk begeisterter Ministrantenkinder versucht im Überschwang der Gefühle, den vorbei rollenden "Stolz der Bayern" an der Seite zu tätscheln. Gerade noch drückt sie ein Polizist zurück, während ein herbeieilender Pfarrer ruft: "Kiddies, jetzt kommt aber wieder!"

Überhaupt legt der Menschentross, je weiter die Lok sich ihrem Ziel nähert, immer mehr Hemmungen ab. 70 Beamte der Polizei sind nicht nur damit beschäftigt, den Verkehr kurzfristig abzusperren und umzuleiten, sondern auch Menschen daran zu hindern, sich wegen eines Fotos zu dicht an Lok und Tender zu postieren.

Bisweilen beweist der Beamte am Polizeilautsprecher Humor: "Vorsicht an der Fahrbahn", sagt er einmal", "Ihr werdet's nicht glauben: Jetzt kommt eine Dampflok." Wo die Ampeln der Lok zuliebe länger auf rot schalten, stehen verwaiste Autos mit offenen Türen, während sich die Fahrer mit gezückten Foto-Handys durch die Menge schubsen.

Andernorts lehnen sich Menschen gefährlich tief von ihren Balkonen herab, um den Auftrieb zu fotografieren. Und die Gäste in einem Café am Baldeplatz starren offenen Mundes auf das, was sich am Fenster vorbei schiebt.

Der Fahrer - einhändig

Den Fahrer des Lok-Schwerlasters scheint das alles nicht aus der Ruhe zu bringen. Zum Teil lenkt er einhändig, das Kinn konzentriert in die linke Hand gestützt, vor ihm eine Chipstüte, ein Teddybär und ein Schild: "FC Hansa Rostock". Meistens fährt er im Schritttempo.

Selbst an den kniffligen Stellen, beim Einbiegen in die Lindwurmstraße, später in die Poccistraße und schließlich in der Kurve vom Bavariaring hoch zum Alten Messplatz, scheint alles reibungslos zu laufen.

Immer dann, wenn es eng wird, wenn die Schwertransporter besonders langsam machen müssen, schlägt die Stunde der Väter. Dann erklären sie ihren Kindern die Charakteristika der vielbewunderten Lok: Die hohe Lage des großen, langen Kessels mit den niedrigen Aufbauten, die breite Feuerbüchse, das offene und gut zugängliche Triebwerk. Ihre 1770 PS, ihre Höchstgeschwindigkeit von 120 Stundenkilometern - "Das war damals der Hammer!" - und ihre Treibräder von zwei Metern Durchmesser. Und natürlich die Vierzylinder-Verbundmaschine, die sich durch besondere Laufruhe auszeichnet!

Dabei animieren sie ihre Familien, noch einen Tick faszinierter zu sein. Im Cockpit des zweiten Schwertransporters, der den Tender trägt, fährt die Kuratorin der Abteilung Schienenverkehr des Deutschen Museums mit. An einem blauen Samtvorhang vorbei winkt Frauke von der Haar dem Volke beseelt zu.

Die Stunde der Wahrheit

15 Minuten nach 12, etwas später als geplant, rollt der Transport vom Bavariaring hoch Richtung Schwanthaler Höhe. Vor der Feuerwehr stoppt der Lok-Transporter, um sich vom Tender überholen zu lassen - schließlich sollen die beiden Gefährte in dieser Reihenfolge in Halle II arrangiert werden.

"Jetzt kommt the Hour of Truth" sagt ein Bayer, "die Stunde der Wahrheit". Nacheinander rollen die nostalgischen Gefährte in den Hof des Verkehrszentrums, hinter ihnen schlägt der Metallzaun zu.

Zurück bleibt eine Menschenmasse, die noch nicht recht weggehen mag, sondern lieber ein allerletztes Mal auf die Lok gucken will, an die sie sich in den letzten zweieinhalb Stunden gewöhnt hat.

"Im September kommen wir die Lokomotive dann in der Ausstellung anschauen, ja?", sagt ein Vater noch zu seinen müden Kindern. Bis dahin wird er ihnen noch einiges erklären müssen - anhand Hunderter Bilder von der S 3/6.

© SZ vom 3.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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