Lehrer auf der Kinderkrebsstation:Lernen fürs Leben

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Mathe am Krankenbett: Bernhard Ruppert unterrichtet in einer Münchner Klinik Kinder, die an Krebs erkrankt sind. Die jungen Patienten wünschen sich nichts sehnlicher, als endlich wieder in die Schule zu dürfen.

Anne Alichmann

Manchmal ist es einfach für Bernhard Ruppert. So wie heute mit Daniel ( Namen aller Schüler geändert). Dem Jungen geht es gut - obwohl er erst vor wenigen Stunden seine Chemotherapie bekommen hat. An einem Ständer hängt noch der Infusionsbeutel. Jetzt sitzt der schmächtige Junge mit dem kahlen Kopf und dem blauen Pyjama aufrecht in seinem Krankenhausbett, auf dem Klapptisch vor ihm liegt ein Mathebuch. Mit einem Bleistift kritzelt er eifrig Zahlen auf ein Blatt Papier. Bernhard Ruppert sitzt daneben und sieht ihm zu. Als Daniel aufhört zu schreiben, lächelt der Mann ihn an. "Prima, du hast es verstanden." Die wimpernlosen Augen des Jungen leuchten.

Mathe am Krankenbett: Bernhard Ruppert unterrichtet Kinder, die an chronischen Krankheiten leiden. (Foto: Anne Alichmann)

Daniel hat Leukämie. Seit zwei Monaten wird der Zwölfjährige im Haunerschen Kinderspital in München behandelt. Wann er wieder nach Hause darf, ist ungewiss. Ob er jemals wieder in seine alte Schule gehen kann, auch. Doch auf das Lernen muss Daniel nicht verzichten: Solange er im Krankenhaus liegt, ist Bernhard Ruppert sein Lehrer. Der 53-jährige Sonderpädagoge arbeitet an der Schule für Kranke München, einer staatlichen Einrichtung, die Kinder mit chronischen Erkrankungen betreut. In München kümmern sich 22 Lehrer an zwölf Krankenhäusern um junge Patienten, die den Unterricht an ihrer Heimatschule versäumen.

Auf der Kinderkrebsstation ist an diesem Tag wieder viel los. Nachdem Bernhard Ruppert sich von Daniel verabschiedet hat, macht er sich auf den Weg zu seinem nächsten Schüler. Ein großer, breiter Gang verbindet die Zimmer. Wie in einem Kindergarten sieht es hier aus, bunt und fröhlich. Girlanden hängen von der Decke, Bilder kleben an den Wänden, Stofftiere sitzen in Ecken und auf Stühlen. Aus einem der Räume dringt Kinderlachen auf den Flur. Irgendwo dudelt ein Radio. Es riecht nach Desinfektionsmittel.

Ruppert klopft an den Holzrahmen einer offenen Tür, dann tritt er ein. Im Bett am Fenster liegt Lukas. Der Junge hat das weiße Laken bis zum Kinn hochgezogen, seinen Kopf hat er auf einen Plüschelefanten gestützt. Er starrt nach draußen. "Wie geht es dir heute?", fragt Ruppert. Lukas antwortet nicht. Er ist noch nicht lange hier, weiß erst seit ein paar Tagen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Sein Hausarzt hatte bemerkt, dass seine Blutwerte nicht in Ordnung sind. Lukas wurde sofort in die Klinik überwiesen. Nach zahllosen Untersuchungen bekam er schließlich die Diagnose: Er hat Leukämie. Zwischen sechs und neun Monaten wird er im Krankenhaus bleiben müssen.

"Heute lieber noch nicht, oder?", fragt Ruppert den Jungen. Seine Stimme klingt sanft. Lukas schüttelt stumm den Kopf. Der Lehrer nickt, dann geht er. Am Anfang ist es immer schwer. Später dann, wenn die Kinder länger auf der Station sind, freuen sie sich auf seine Stunden. Auf etwas Ablenkung, auf einen Ansprechpartner. Ruppert ist stolz, welcher Lehrer kann das schon von sich behaupten.

Nach dem Unterricht geht Bernhard Ruppert in sein Büro. Im Haunerschen Kinderspital ist die Schule unter dem Dach untergebracht, drei Räume, wenige Quadratmeter. Rupperts Zimmer hat gerade einmal Platz für einen schmalen Schreibtisch und ein paar Regale. In der Fensterbank stapeln sich Schulbücher. An eine Wand gelehnt steht ein mit Filzstiften gemaltes Bild, Jungen und Mädchen Hand in Hand auf einer Erdkugel. "Kinder haben Rechte" steht in Großbuchstaben darüber. Dafür kämpft Bernhard Ruppert. Er will den Kindern helfen, nicht den Anschluss zu verlieren. Nicht ausgegrenzt zu werden aus einer Gesellschaft, in der es um Leistung geht. In der Kranke, Alte und Schwache es schwer haben.

Vor seiner Zeit als Lehrer an der Schule für Kranke München arbeitete der Vater von zwei Kindern in einer Jugendpsychiatrie, 22 Jahre lang. Er betreute Mädchen und Jungen mit Essstörungen, Schizophrenie, Phobien. Kinder, die im Allgemeinen als verhaltensgestört bezeichnet werden. Dann wurde er auf die Schule für Kranke aufmerksam, beschloss zu wechseln. Seit drei Jahren lehrt der studierte Sonderpädagoge nun im Haunerschen Kinderspital, gemeinsam mit drei Kolleginnen. Zusammen decken sie alle Kernfächer und alle Schulformen ab. Nur für spezielle Fächer, Rechnungswesen etwa, kommen Lehrer aus anderen Kliniken oder von außen.

Ihre Stunden halten die Pädagogen am Krankenbett, im Gemeinschaftsraum oder per Videokonferenz. Zu ihren Aufgaben zählt aber nicht nur der Unterricht, sondern auch der Kontakt zur Heimatschule des Patienten. Manchmal fahren sie auch hin und klären Klassen über die Krankheit ihres Mitschülers auf. Im Fall von Florian zum Beispiel. Als der Achtjährige nach der Therapie im Haunerschen Kinderspital an seine Schule zurückkam, redete er ständig über seine Krankheit. Dozierte wie ein kleiner Professor über den Tumor in seinem Kopf, stundenlang. Seine Mitschüler waren genervt. Keiner wollte neben ihm sitzen, dem Wichtigtuer. Niemand wollte mit ihm die Pause verbringen. Doch als Ruppert einen Vormittag in die Klasse kam, den Unterricht gestaltete und mit den Kindern darüber sprach, was Florian durchgemacht hatte, verstanden sie ihn.

Ruppert gefällt seine Arbeit. An keiner anderen Schule ist die Beziehung zu den Schülern, zu "seinen Kids" so eng. Nirgendwo sonst spürt er die Wirkung seines Unterrichts so direkt wie hier. Aber er hört es nicht gerne, wenn er gefragt wird, wie er das ganze Leid, die psychische Belastung, denn aushalte. Wie er es schafft, seine Schüler immer wieder zu motivieren. "Ich bin kein Held", sagt er dann. "Die Kollegen, die jeden Tag Klassen mit dreißig Schülern unterrichten, leisten ebenso bemerkenswerte Arbeit."

Sicher, mit dem Sterben umzugehen, das ist schwierig für Ruppert. Denn nicht allen Kin-dern im Haunerschen Spital kann geholfen werden: Viele Patienten kommen mit einem Rückfall in die Klinik, etwa jeder sechste überlebt seine Krankheit nicht. Wenn einer seiner Schüler stirbt, ist das für den Lehrer schlimm. Doch damit müsse er klarkommen, findet er. Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern gehe es schließlich nicht anders.

Und es gibt ja auch gute Augenblicke, viele sogar. Im vergangenen Jahr legte etwa eine junge Patientin ihr Abitur im Krankenhaus ab. Nicole hatte schon zwei Prüfungen an ihrer Schule geschrieben, als sie zur Stammzellentherapie in die Klinik musste. Englisch und Ethik fehlten noch. Die Klausuren schrieb sie auf der Isolierungsstation, in ihrem Bett hinter einer Glasscheibe. Neben ihr saß ein Fachlehrer, mit Kittel, Mundschutz und Haube, und beaufsichtigte die Prüfung. Nicole bestand. Heute geht es ihr gut. Sie hat angefangen zu studieren.

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