Leben im Alter (1):Gegenwärtig ist die Vergangenheit

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Wie zwei Schwestern im Alter von 101 und 102 Jahren ihren Alltag trotz Gebrechen klaglos bewältigen.

Monika Goetsch

Vielleicht ist das Alter ja vor allem eine jahrelange Geduldsprobe. Etwas, das man lernen muss. "Aber wie?" Helene Stobbe lächelt dieses feine, kleine Lächeln, das nicht nach Weisheit ausschaut, eher ganz jung und gerade so, als stünde man noch im höchsten Alter am Anfang mit allem.

Helene Stobbe und Dora Grenz. (Foto: Foto: Schellnegger)

Stobbe ist 101 Jahre alt, ihre Schwester Dora Grenz 102. Eine weitere Schwester verstarb hundertjährig in Gauting. Die Schwestern, die am Ende des Krieges von der Ostsee nach Bayern flohen, sind gemeinsam uralt geworden. Immer noch sind sie ganz klar im Kopf und offen und lebendig im Gespräch, immer noch kommen sie ohne viel Hilfe zurecht. Sind es die Gene? Ist es die Gemeinschaft? Eine gewisse Disziplin? Alles zusammen? "Ich bin hundertundzwei und kann es selbst nicht glauben", sagt Dora Grenz. "Auf Lachsöl halt ich sehr viel", meint Helene Stobbe zögerlich - das Lachsöl allein, das weiß sie sicher, kann es nicht sein.

Die beiden leben in der kleinen Fürstenrieder Wohnung, die sie 1961 bezogen haben. Unter den Teppichen sind dunkle Holzdielen verlegt, die gemusterten Tapeten entstammen längst vergangenen Zeiten, der Mietpreis liegt unter dreihundert Euro. Es gibt keinen Aufzug, die Treppen sind für beide unüberwindbar geworden.

Dora Grenz war seit Monaten nicht mehr draußen, ihr blaues Wägelchen steht vor der Tür, ein Reifen ist aufgeplatzt. Helene Stobbe, die jüngere, wagt sich seit Februar nicht mehr aus dem Haus. Die Einkäufe werden den beiden gebracht, sie kochen noch selbst, jede für sich, die eine mag Hülsenfrüchte, die andere nicht. Es passt nun mal nicht immer alles zusammen. So hat eine jede ihren eigenen Mittagstisch. Aber Schokoladeneis mit Eierlikör, das mögen sie beide und wer zu Besuch ist, wird mit Vergnügen eingeladen und der Eierlikörklecks ist dann ganz besonders groß.

Im Sessel vor sich hingucken

Einmal wöchentlich kommt eine Mitarbeiterin der Sozialstation zu Helene Stobbe, täglich eine zu Dora Grenz. Die beiden alten Damen haben einige Leiden, nehmen so manches Medikament für Herz und Kreislauf, für die Nieren und gegen den Alterszucker, mal tut es hier weh, mal da, man hört nicht richtig, Helene Stobbe hat diesen Schwindel dann und wann und eine grenzenlose Müdigkeit, der man einfach immer häufiger nachgeben muss. "Wir sitzen oft im Sessel und gucken vor uns hin. Was ist dann wohl in unserem Kopf? Ich weiß es nicht. Aber wir brauchen das beide", sagt Dora Grenz. Sie fügt hinzu: "Mitunter schlaf ich dann allerdings doch dabei ein."

Man könnte meinen, es ist ein Leben mit Gewichten an den Armen und Beinen, eine Erdenschwere, die jede Bewegung verlangsamt, nur das Sprechen: das hat sein gewohntes Tempo und die Wachheit der Jungen. Aber auch das ist anstrengend geworden, wie alles andere. Das Abspülen. Das Haaremachen. Sogar das Essen.

Trotzdem haben die Schwestern kleine Projekte, Rituale, von denen sie nicht lassen mögen. Für die Pralinen mit Marzipanfüllung, die sie zu Festtagen noch immer selbst zubereiten, brauchen sie jetzt mitunter drei ganze Tage. Einen Tag Mandeln häuten, "abschlupfen" nennen sie das. Einen Tag die Mandelmasse mit Rosenwasser und Puderzucker vermischen. Einen Tag Stricknadeln mit dieser Masse spicken, in erhitzte Edelschokolade tunken und abtropfen lassen, eine Walnuss obenauf.

Täglich nur einmal anstrengen

Helene Stobbe sagt: "Ich bemühe mich, täglich nur eine Sache zu machen, die besonders anstrengend ist." Sie zitiert Theodor Fontane: "Man muss lernen, mit dem Gegebenen zufrieden zu sein, und nicht immer das verlangen, was gerade fehlt..." Und sie zitiert Theodor Storm, noch einen norddeutschen Dichter, den sie liebt: "Vergessen und Vergessenwerden! Wer lange lebt auf Erden, der hat wohl diese beiden zu lernen und zu leiden."

Die Schwestern, findet Stobbe, "wurschteln" sich im Alltag so durch, "kabbeln" sich auch, wie sie sagen, geschwisterlich, schon damals an der Weichsel waren sich beide nicht immer grün. Vielleicht hält das ja so lebendig: Diese immer wieder einschießende Wut, schließlich hängt man nun doch schon sehr lange eng aufeinander, die Nerven machen das nicht gut mit, dass da immer noch die andere ist, in der Küche, im Wohnzimmer, im Flur, diese Schwester, deren Langsamkeit man noch schlechter erträgt als die eigene. So eine Geschwisterkonkurrenz geht offenbar auch nach hundert Jahren nicht zu Ende. Vernünftiger, meint Dora Grenz, wäre es ja, sich nicht zu streiten, "aber die Vernunft ist doch auch schon so alt!"

Zugleich hält die gegenseitige Rücksicht, die Verpflichtung einander zu helfen, die Tage zusammen. Verlässt die eine am Morgen das Bad, geht die andere hinein. Wer besser hört, geht ans Telefon, wer seine Brille nicht findet, bittet die andere, zu notieren. Dass sich keine gehen lässt: das ist ein Grundprinzip, das beide teilen. Ferngesehen wird wenig, im Fernsehen sei ja auch nicht mehr viel für sie zu sehen, findet Dora Grenz, diese Knutschereien, die vielen Leichen, das mag sie nicht.

Nicht mehr drin in der Welt

Früher, da waren die Krimis noch echte Straßenfeger. Es gab Schauspielerinnen wie Lola Müthel, die heute kaum einer kennt, und die Christiane Hörbiger war auch "noch nicht so überspielt und geliftet". Mit moderner Literatur kommen die beiden nicht zurecht, "Fräulein Smillas Gespür für Schnee", da blieb Helene Stobbe stecken, es gefällt ihr nicht.

Die Schwestern teilen das Gefühl, von einer "völlig veränderten Welt" umgeben zu sein, in der sie schon längst "nicht mehr drin stehen" und an schlechteren Tagen auch gar nicht mehr drinstehen wollen. Diese Welt kommt allerdings immer wieder zu ihnen, als feiner Seidenschal von Günther Beckstein oder als vergoldete Medaille zum Hundertsten von OB Christian Ude, der zum Dank ein Stück selbstgebackenen Apfelkuchen bekam mit der ernst gemeinten Einladung, doch einmal bei den Schwestern vorbei zu kommen.

Vielleicht käme dann Becksteins Schal zu seinen Ehren, der ruht nämlich ungenutzt in seiner Schachtel. Dora Grenz findet, es fehlt der Anlass, ihn zu tragen ("ich geh ja nicht mehr aus"). Helene Stobbe will ihre Münze vielleicht verschenken, aber froh sind beide, dass Stadt und Land nicht auf diese Präsentkörbe ausgewichen sind, mit all den Pasteten darin und den Süßigkeiten, "wer verträgt das schon im Alter?"

So sehr die Gegenwart auch für beide Schwestern zurückweicht: die Vergangenheit breitet sich in ihnen und zwischen ihnen aus mit ihren Düften, dem Bratapfelgeschmack an kalten Wintertagen, der Erinnerung an eine Zeit, da für den kindlichen Gaumen alles neu war. Man suchte im Frühling Kiebitzeier, sagte Verse auf für den Kaiser, spielte an der Weichsel und beobachtete die Männer, die auf Flößen aus den Karpaten den Fluss hinabtrieben. Es war "die Knickszeit", "wie waren wir da dressiert!"

Ein auf kleine Geschichten und große Sensationen verdichtetes Leben, noch ungezeichnet von Krieg und Flucht und vom Neuanfang in München, wo Dora Grenz einen Posten im Büro einer Firma fand, was den Schwestern und Doras Sohn aus geschiedener Ehe das Leben finanzierte.

Helene Stobbe, von Beruf Kindergärtnerin, hat sich um ihren Neffen gekümmert. Der hilft beiden Damen noch heute viel, die Blumentöpfe auf dem Balkon sind darum so schön bepflanzt, und es gibt die Aussicht auf einen Treppenlift, den er besorgen will. Auch mit ihm, sagt Dora Grenz freimütig, zanke sie hin und wieder. Sie setzt an: "Die heutige Jugend...", dann verbessert sie sich, ihr Sohn ist sechzig Jahre alt, "na, zur Jugend zählt er auch nicht mehr".

Eine neue Leidenschaft

So fände im Leben der beiden Schwestern alles einen immer gemächlicheren, selbstvergesseneren Takt, hätte Helene Stobbe nicht im vergangenen Winter eine neue Leidenschaft entdeckt: das Schreiben. Es war ein mutiger Schritt, alles sei ja über die Vergangenheit bereits gesagt, findet Stobbe, und doch hat sie sich in diesem Januar hingesetzt und vier Wochen lang aufgeschrieben, wie das für sie und ihre Schwestern war, damals an der Weichsel.

Sie hat Spiralblock um Spiralblock mit Erinnerungen gefüllt, Morgen für Morgen, "es war wie eine Sucht". Als der Text fertig war, brach sie im Flur zusammen. Seit diesem Schwächeanfall sollte sie eigentlich noch besser auf sich aufpassen. Aber Helene Stobbe schreibt schon wieder weiter, von der Flucht und der qualvollen Verlorenheit in einem weit entfernten Jahrhundert. Mit 101 Jahren schlägt sie noch einmal ein neues Kapitel auf: ihr eigenes.

© SZ vom 18.08.2008/bilu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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