Kyrill-Bilanz:Sturm über der Stadt

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München und der Orkan "Kyrill": Rettungshubschrauber bleiben im Hangar, bei der Bahn geht nichts mehr, die Schulen sind geschlossen.

Bis zuletzt flogen die Piloten des Eurocopter EC 145 mit der Kennung "Christoph München" am Donnerstag vom Klinikum Großhadern aus noch zwei Einsätze. Als dann am Nachmittag aus dem Umland Windmeldungen von bis zu 80 Knoten einliefen, war Schluss.

"Da geht dann nichts mehr"

Bernhard Schmid, diensthabender Kapitän: "Da geht dann nichts mehr. Wir müssen solche Entscheidungen von Minute zu Minute treffen. Es hängt zum einen von der Böigkeit des Windes ab, zum anderen davon, ob es für einen Patienten noch sinnvoll ist, transportiert zu werden."

Schließlich sei der Heli massivsten Turbulenzen ausgesetzt, da könne eine sinnvolle Behandlung und Betreuung kaum noch stattfinden.

Es war am späten Nachmittag, als München auf einmal eine ganz andere Musik machte: Da, wo sonst Straßenmusikanten am Werk sind, suchten die Menschen nun nach der Ursache eines hellen, durchdringenden Pfeifens. "Kyrill" meldete sich, und noch bevor man die Böen spürte, hörte man sie.

Am Viktualienmarkt verfingen sie sich in dem ringsherum gespannten Absperrband, das den Bereich abriegeln sollte, in den der Maibaum stürzen könnte. Die Marktkaufleute packten alles, was nicht fest mit der Erde verbunden war, in Häuschen oder Lieferwagen, um die Waren vor der Sturmnacht zu schützen. Noch ehe sie fertig waren, knallte schon das erste "Sturmwarnung!"-Schild auf den Boden.

Am Marienplatz spielten Schüler mit den aufregenden Seiten des Sturms: Im Rathausdurchgang, durch den der Wind heulend pfiff, stemmten sie sich mit ausgebreiteten Armen gegen die Kraft der Natur, während die schweren eisernen Hängelampen im Eingang bedenklich im Wind baumelten.

Der Leierkastenmann in der Neuhauser Straße hatte weniger Freude mit den Windböen: Er packte ein, weil es ihm das Geld davonwehte.

Die Schüler wurden bereits um 13 Uhr nach Hause geschickt. "Das ist zum Schutz der Kinder, damit sie auf dem Weg nach Hause nicht von herabfallenden Ästen getroffen oder anderweitig geschädigt werden", sagte Ludwig Unger, Sprecher des Kultusministeriums.

Am Abend war die Sache klar: Die Regierung von Oberbayern erklärte, der Unterricht werde wegen der ungeklärten Verkehrslage am Freitag in allen Schulen ausfallen. Für Schüler, die dennoch erschienen, gäbe es jedoch eine Betreuung.

So war es auch am Donnerstag nachmittag. Kinder und Jugendliche, für die eigentlich Nachmittagsunterricht vorgesehen war und auf die niemand zu Hause wartete, konnten in den Schulen bleiben, dort wurde für sie gesorgt. Die Kindergärten blieben regulär geöffnet, allerdings durften besorgte Eltern ihre Kinder auch früher abholen.

Keine Chance auf Weiterfahrt

An den Bahnhöfen ging am frühen Abend schon gar nichts mehr. Aus Sicherheitsgründen wurden Fernverkehr und S-Bahn weitgehend eingestellt, am Hauptbahnhof saßen etliche Menschen fest. Vor den Informationsschaltern standen über Stunden Trauben frustrierter Fahrgäste, nur um zu erfahren: keine Chance auf Weiterfahrt.

Das Intercity-Hotel war schnell ausgebucht. Am Ostbahnhof bildeten sich spontan Taxi-Fahrgemeinschaften, auf diese Weise versuchten Reisende, doch noch heimzukommen. Taxis waren auch am Hauptbahnhof noch zu bekommen, "schnell an der Reihe und eine weite Fahrt", sagte der Erste in der Schlange: Sein Fahrgast wollte nach Augsburg.

Für unfreiwillige Übernachtungsgäste, die kein Hotel in München bezahlen konnten oder wollten, stellte die Bahn zwei "Wärmezüge" auf, beheizte Abteilwagen, in denen gestrandete Fahrgäste die Nacht verbringen konnten. Eine Gruppe junger Australier schaute dem Treiben lange Zeit ratlos zu: Die Durchsagen über die Lautsprecher waren ausnahmslos auf Deutsch.

Alarm auch auf den Großbaustellen der Stadt. Nicole Zausinger, Bauleiterin bei Hochtief, weiß, was in solchen Fällen zu tun ist: Auf der ehemaligen Panzerwiese im Münchner Norden wurden alle Arbeiten am entstehenden Einkaufszentrum um 12.30 Uhr eingestellt.

Dabei galt es vor allem, loses Material zu beschweren - mit Zementpaletten oder Eisen. Poliere und Bauleiter blieben auch am Nachmittag draußen, um die weitere Entwicklung zu beobachten.

Besonders gefährdet waren natürlich die Kräne. Für sie gelten 72 Kilometer pro Stunde als wichtigster Grenzwert. Wird der Wind stärker, müssen die Kranfahrer aussteigen. Ein Windsensor zeigt den aktuellen Wert an. Größer als die Gefahr oben in der Kabine wäre Starkwind ohnehin für die Arbeiter auf dem Boden. Sie könnten von schweren Platten getroffen werden, die am Arm des Krans hängen und die der Wind unkontrollierbar macht.

Bevor der Kranführer nach unten klettert, richtet er den Arm des Gefährts in Windrichtung aus. Vom Boden aus löst er dann die Bremse, so dass sich der Kran um 360 Grad drehen kann, wenn der Wind aufprallt. "So bietet der Kran nur wenig Angriffsfläche", sagte Thomas Neuhausen, Disponent bei der Firma Baukran-Logistik in Forstinning, die viele Münchner Baustellen beliefert.

Von 14 Uhr an war Schluss mit Fahrten auf den Olympiaturm. "Da ist keiner mehr oben", sagte Betriebsleiter Josef Pfaff am Nachmittag. "Obwohl es kein Problem wäre." Der Clou am Turm ist sein niedriger Schwerpunkt in etwa 50 Metern Höhe: "Das ist ein Effekt wie beim Stehaufmännchen", sagt Pfaff.

Weil er schwanken muss

Der Turm schwankt, weil er schwanken muss: "Was sich nicht bewegt, bricht." Eine weitere Attraktion im Münchner Norden war am Nachmittag zum Teil geschlossen: Die Allianz-Arena war von 13.30 Uhr an für Besucher, die zu Fuß über die Esplanade kommen, gesperrt. Im Zugangsbereich sei mit herumfliegenden Gegenständen zu rechnen, sagte Stadion-Sprecher Werner Götz.

Fieberhaft gewerkelt wurde auch am Flughafen. Dort treten die Probleme allerdings, anders als man erwarten würde, zunächst auf Höhe null auf. Diverse Fahrzeuge der Bodenverkehrsdienste, also fahrbare Flugzeugtreppen oder die Hebebühnen-Lastwagen der Catering-Firmen, dürfen bei Sturm nicht mehr genutzt werden - die Gefahr, dass das Gerät gegen den empfindlichen Flugzeugrumpf gedrückt wird, ist zu groß.

Einige Langstreckenjets der Lufthansa wurden im Hangar beladen. Ansonsten haben die Airport-Mitarbeiter, wie es Sprecher Ingo Anspach ausdrückte, "alles, was nicht unbedingt draußen stehen muss, in die Hallen geräumt", den Rest mit Seilen gesichert. Die Piloten drehten parkende Maschinen mit der Nase in den Wind, damit die Angriffsfläche geringer ist.

Dieses Prinzip gilt übrigens genauso in der Luft - weshalb der gestrige Westwind angesichts der in West-Ost-Richtung verlaufenden Pisten kein allzu großes Problem war. Starker Gegenwind, so versicherte ein Sprecher der Lufthansa, ist weder beim Start noch bei der Landung eine ernsthafte Gefahr. Unangenehmer seien Seitenwinde. Bei Windstärken jenseits von 30 Knoten würden deshalb keine Starts oder Landungen mehr eingeleitet.

Seitenwinde waren auch der Grund, dass viele Passagiere am späten Abend ein äußerst ungeliebtes, für Piloten aber routinemäßiges Manöver ertragen mussten: Durchstarten.

© bilu, budd, capi, chro, dh, fok, jkä, ruh/SZ vom 19.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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