Kurzkritik:Das Ende des Lehrplans

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François Bégaudeaus "Die Klasse" im Marstall

Von Petra Hallmayer, München

"Ich hab' die Schnauze voll von denen", erklärt Herr Kleiner, der allein im Klassenzimmer auf dem Boden kauert. "Sollen sie doch in ihrer Scheiße bleiben!" Sein Job ist zum Verzweifeln, eine zermürbende Sisyphos-Arbeit. All seine Versuche, die bockig bildungsresistenten Schüler zu motivieren, scheitern letztlich kläglich. In dem Roman "Die Klasse" schildert François Bégaudeau den Alltag eines Lehrers in Paris. Im Marstall hat Anja Sczilinski die Chronik eines Schuljahres nun mit Jugendlichen der intergroup, deren Familien aus 13 Nationen kommen, und Schauspielern auf deutsche Verhältnisse übertragen. Auf der mit immer wieder neu gruppierten Pulten ausstaffierten Bühne müht sich Herr Kleiner (überzeugend: Anton Algrang) vergebens, Kaya, Mohammed und all den anderen Rilke ("Voll Mittelalter!") und "Das Tagebuch der Anne Frank" nahezubringen. Mit den frustrierenden Realitäten ihres Lebens, die hinter den rotzig coolen Posen aufscheinen, hat der Lehrplan nichts zu tun.

Gegen die Spruchsalven seiner Schüler kommt Herr Kleiner nicht an. Zugleich wird er von einer Kollegin bedrängt, einem Schulverweis mit fatalen Folgen zuzustimmen. Die empörte Klasse setzt den Lehrer unter Druck, und als er zwei Mädchen beschimpft, eskaliert die Situation. Mit welcher Souveränität die jungen Darsteller auf der Bühne agieren, wie sie völlig frei von laienhaftem Overacting authentische Typen zeichnen, das ist phantastisch.

Manchmal allerdings hätte man sich gewünscht, dass die Regisseurin das Tempo etwas anzieht und das Potenzial der Jugendlichen, ihren Spielwitz und ihre Bewegungsfreude, die sie nur in kurzen Tanz- und Gesangsnummern demonstrieren dürfen, stärker nutzt. Wenn die Schüler rappen und dem Lehrer im Chor entgegenrufen "Was weißt du von uns?", dann gewinnt die Inszenierung mitreißend an Power. Wer sie wirklich sind, wissen wir am Ende nicht, aber nach diesem Abend können wir ahnen, welch ein Reichtum an Talenten in ihnen steckt.

© SZ vom 27.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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