SZ: Was ist besser für ein Kind: Stadt oder Land?
Heueck-Mauß: Das kann man so pauschal nicht sagen, denn es gibt keine Studien zu diesem Thema. Ein paar Unterschiede kann man aber festhalten. Vergleicht man zum Beispiel das modern-individualistische Stadtkind mit einem traditionell-klassischen Landkind, stellt man fest, dass das Stadtkind im Sprachausdruck meistens weiter entwickelt ist. Das Landkind dagegen, das vielleicht nicht mal den Kindergarten besucht, ist selbstständiger, autonomer.
SZ: Sind die Kinder, die mit ihren Eltern aus München hinausziehen, klassische Landkinder?
Heueck-Mauß: Eher nicht. Diese Umzieher kommen meistens aus der Mittel- oder Oberschicht und sie ziehen nicht weit weg, sondern in das, was ich "Pseudo-Land" nenne. Diese Gegenden haben den Vorteil, dass es meistens einen Garten gibt, der größer ist als der typische Münchner Handtuchgarten.
SZ: Was bedeutet das für das Kind?
Heueck-Mauß: Diese Kinder können in den Garten gehen, wann sie wollen, sich draußen austoben, kindgerecht spielen, schreien - sie können also selbst über ihre Mobilität bestimmen, kreativer und phantasievoller spielen und ihre Sozialkontakte selbst bestimmen - nämlich einfach zu einem Nachbarskind gehen. Oft kann auch der Vater bei seinen Hobbys begleitet werden, beim Garteln oder Herumschrauben oder ähnlichem - in einer Stadtwohnung geht so etwas gar nicht.
Die Kinder bewegen sich auf dem Land also eher in einem heterogenen Umfeld, kommen nicht nur mit gleichaltrigen Kindern zum Beispiel in der Krabbelgruppe in Kontakt. Das ist wichtig für die soziale Entwicklung, außerdem kann mehr über Nachahmung gelernt werden. Das Kind ist in seiner Entfaltung also weniger auf die Lust der Eltern angewiesen, sich jetzt gerade mit ihm zu befassen.
SZ: Was hat das für Auswirkungen auf die Entwicklung?
Heueck-Mauß: Landkinder können sich oftmals besser konzentrieren. Weil sie selbstbestimmter handeln und ihren Bewegungsdrang besser ausleben können, sind sie ausgeglichener, weniger aggressiv. Außerdem lernt man in den ersten drei Jahren viel dadurch, dass man die Möglichkeit hat, etwas genau zu betrachten, in dem Tempo, das man dafür braucht - wenn man zum Beispiel eine halbe Stunde lang einen Regenwurm beobachtet.
Und die Kinder lernen beim Spielen, eigene Ideen zu entwickeln: Höhlen graben, Rollenspiele machen, Baumhäuser bauen. Nicht zuletzt sind Landkinder mehr an der frischen Luft, haben mehr Bezug zu den Jahreszeiten, und sie sind dadurch wesentlich weniger anfällig für Infektionen.
SZ: Spielen Stadtkinder anders?
Heueck-Mauß: Stadtkinder leben oft in viel zu kleinen, mit Spielzeug voll gestopften Kinderzimmern - darin kann man sich gar nicht auf eine Sache konzentrieren, weil es ein Überangebot an Reizen gibt. Und selbst kreativ sein muss das Kind schon gar nicht. Seit geraumer Zeit beobachten wir in Kindergärten das so genannte Montagssyndrom, das auftritt, wenn am Wochenende schlechtes Wetter war. Die Kinder sind so zappelig, so aggressiv, dass sie es nicht einmal schaffen, ihre Stühle im Kreis aufzustellen. Dann müssen die Erzieher sie erst mal eine Stunde rausschicken, damit sie sich austoben können.
Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass die Kinder das ganze Wochenende in der Wohnung, wahrscheinlich vor dem Fernseher verbracht haben - bei der technischen Oma, sagen wir. Solche Kinder sind im Allgemeinen fahriger, unruhiger, unkonzentrierter. Wenn schlechtes Wetter ist, zieht ein Landkind Gummistiefel an und läuft durch den Matsch. Ein Stadtkind kann nicht so einfach raus aus seiner Wohnung im sechsten Stock.
SZ: Können sich Landkinder freier entwickeln?
Heueck-Mauß: Wenn die Eltern es zulassen, ja. Manche Eltern sind zu ängstlich. Kinder müssen auch mal auf einen Baum klettern, hinfallen, sich dreckig machen. Wir sagen auch in den Kindergärten immer, die Eltern sollen die Kinder, auch die Mädchen, so anziehen, dass sie raus in den Matsch können. Viele Kinder sind heute erschreckend zurückhaltend, fast zu gut erzogen.
SZ: Weil sie in der Stadt nicht kindgerecht leben können?
Heueck-Mauß: So würde ich das nicht ausdrücken, aber Stadtkinder sind generell mehr Regularien ausgesetzt: Nicht lärmen, nicht im Hof spielen, die Kinder können nicht einfach rausgehen, wenn ihnen danach ist. Egal, was das Kind machen will, es muss immer geplant, wenn nicht verplant werden - und es braucht immer Hilfe, kann nicht allein einfach irgendwo hingehen.
SZ: Das heißt also, dass es Kindern auf dem Land eindeutig besser geht?
Heueck-Mauß: Nein. Die Situation kippt spätestens dann, wenn die Kinder auf weiterführende Schulen kommen, vielleicht auch schon früher. Sobald das Kind Interessen oder Begabungen entwickelt, sei es für Ballett, eine bestimmte Sportart oder Theaterspielen, denn in der Stadt gibt mehr Förderangebote.
Studien zeigen, dass Kinder auf dem Land pro Woche zwei verschiedene Tätigkeiten ausüben können - in der Stadt sind es acht. Und die kann das Kind einigermaßen selbstständig organisieren, denn ab einem gewissen Alter kann es schon mal zwei Haltestellen mit dem Bus allein fahren. Dann kann das Stadtkind über seine Mobilität selbst bestimmen, das Landkind nicht mehr - denn das Kind allein in die Stadt fahren zu lassen, trauen sich die meisten Eltern nicht.
SZ: Also wieder zurück in die Stadt, sobald die Kinder zehn sind?
Heueck-Mauß: Das wäre eine übertriebene Reaktion, aber viele Eltern ziehen tatsächlich vom Land wieder in die Stadt, wenn die Kinder auf weiterführende Schulen kommen. Man darf aber nicht vergessen: Es kommt immer auf das Engagement der Eltern an, was man aus den Umständen macht, in denen man lebt.
In München sind wir ja noch gut dran: Es gibt sogar Waldkindergärten, wir haben in der Stadt viele Parks, am Stadtrand ist man gleich in wundervoller Natur - man muss sich als Eltern nur aufraffen, mit den Kindern auch dorthin zu gehen. Und das machen viele nicht mehr. Wir müssen in unseren Kursen den Eltern teilweise beibringen, wie man mit Kindern spielt.