Junge Talente:Der Traum vom frechen Mädchen

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Der Markt für Kinderschauspieler boomt - doch der Weg zum Casting und von dort vor die Kamera ist nicht ohne Tücken.

Michaela Metz

Wie Phantásiens kindliche Kaiserin in der Verfilmung von Michael Endes "Unendlicher Geschichte" sitzt Michèle da. In ihrer zartweißen Strickjacke mit Lochmuster und den langen kastanienbraunen Haaren. Und genauso charmant wie die "goldäugige Gebieterin der Wünsche" aus dem Film verfügt sie, dass ihr Papa es sich doch besser ein paar Tische weiter mit einer Zeitung gemütlich machen solle, während sie von ihrem großen Traum erzählt: Michèle will unbedingt Schauspielerin werden.

Die Augen müssen stimmen: Henriette Nagel als naive Kati in der Komödie "Freche Mädchen". (Foto: Foto: Constantin Film)

Gerade hat die Zehnjährige Margarethe von Trotta getroffen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einer Privatwohnung in der Schwabinger Türkenstraße. Ein konspiratives Treffen sozusagen. Die Regisseurin ("Die bleierne Zeit", "Rosenstraße") sucht Kinderdarsteller für ihr neuestes Projekt: "Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen". Barbara Sukowa, die schon als Rosa von Luxemburg für von Trotta vor der Kamera stand, wird die charismatische Benediktiner-Äbtissin verkörpern, die im zwölften Jahrhundert lebte. Und genau deswegen ist sich Michèle nicht so sicher, ob sie die Rolle bekommen wird. Die Augen sind das Problem. Die müssen zu den Augen von Barbara Sukowa und dem Mädchen passen, das die mittelalterliche Mystikerin als Jugendliche spielt.

Michèle ist nicht ihr richtiger Name. Der soll besser noch nicht in der Zeitung stehen. Doch immerhin geht es hier um ihren ersten "Künstlernamen", auch wenn er nur für eine Reportage in der Zeitung nötig ist. Deshalb hat die selbstbewusste Viertklässlerin lange überlegt. So eine Wahl trifft man nicht leichtfertig.

Vernünftige Ausbildung

Michèles Agentin, Carmen Kilka, ist schon seit mehr als zwanzig Jahren in der Medienbranche tätig, seit fünf Jahren gibt es ihre Agentur Mary Poppins Agency. An jedem Tag erhält sie fünf bis sechs schriftliche Bewerbungen und noch einmal so viele per E-Mail. "Die Ausstrahlung ist entscheidend", erklärt die Agenturchefin, "manche Bilder springen einen förmlich an, andere sind blass." Mädchen im Teenageralter seien sehr interessiert, "aber die Jungs zwischen 14 und 18 Jahren sind rar", sagt Kilka. Da sie während der Pubertät oft sehr unsicher seien.

Und dann gibt es die, die wohl auch später als Schauspieler Erfolg haben werden: "Die wollen gar nicht mehr weg vom Set." Sie sind neugierig und setzen sich gegen ihre Eltern durch, die vielleicht zunächst gar nicht begeistert sind von der Idee ihres Nachwuchses, einmal Filmstar zu werden. Doch es gibt keinen Beruf, der "Star" heißt, denn der Schauspielberuf erfordert eine Ausbildung wie jeder andere Beruf auch. Der Weg vom Kinderstar dorthin führt im Idealfall also über eine solide Schauspielausbildung.

Die Hemmschwelle vieler Eltern, ihre Kinder zu einem Casting zu schicken, ist in den letzten Jahren rapide gesunken. Was früher den Ruch des Unseriösen hatte, wurde durch die Superstar-Casting-Shows im Fernsehen legitimiert. Da Kinderarbeit per Gesetz verboten ist, gibt es strenge Auflagen für das Mitwirken an einem Film. Die Schule muss das Kind für die Drehzeit vom Unterricht freistellen, was von den Noten abhängig gemacht wird. Ein Arzt muss bestätigen, dass die Jungdarsteller der Belastung des Drehens gewachsen sind, und das Jugendamt informiert werden. Am Set muss eine Begleitperson den minderjährigen Darsteller betreuen, entweder die Eltern oder ein engagierter Coach. Insgesamt darf ein Kind 20 Drehtage pro Jahr absolvieren, fünf Stunden pro Tag am Set sein und dreieinhalb Stunden drehen.

"Sobald die Kamera läuft, sind das keine Kinder mehr."

"Kinder stehen gerne vor der Kamera, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und sie nicht ausgebeutet werden", sagt Claudia Hipp, stellvertretende Vorsitzende der Berufsvereinigung medienpädagogisch Fachkräfte e.V. (BVMPF). Doch rund achtzig Prozent der Produktionsfirmen hielten die gesetzlich vorgeschriebenen Zeiten nicht ein. "Das ist ein hartes Geschäft. Sobald die Kamera läuft, sind das keine Kinder mehr, sondern kleine Erwachsene." Drehzeiten von zehn bis zwölf Stunden seien leider keine Seltenheit.

Anders als in Nordrhein-Westfalen, dem Sitz der BVMPF, gibt es in Bayern meist keine medienpädagogisch ausgebildete Begleitung, die den Kindern im Vorfeld und am Set zu Seite steht. Hier gelten schlicht die gesetzlichen Bestimmungen, die das Gewerbeaufsichtsamt aber streng überwacht. "Wir sprechen mit Kindern und Eltern, weisen auf mögliche Reaktionen von Mitschülern und Freunden hin. Viele denken gar nicht daran, dass die Produktion später vor großem Publikum ausgestrahlt wird." Wichtig sei auch die Analyse des Drehbuchs, erklärt Hipp. Wie geht man etwa mit Themen wie Kinderprostitution oder Mord um? Kommt das Kind mit dem Stoff des Films wirklich zurecht?

Auch die richtige Agentur ist Vertrauenssache. Fühle ich mich gut aufgehoben? Kann ich auch nach sechs noch anrufen, wenn es ein Problem gibt? Hilfreich ist es zudem, sich nach dem Werdegang der Agenturleitung zu erkundigen. Da dafür keine besonderen Qualifikationen vorzuweisen sind, gibt es in der Branche auch einige, die mehr oder weniger zufällig eine Agentur gründen, nach dem Motto: "Eröffne ich eine Boutique oder eine Agentur?" Einige so genannte Agenturen sind gar nicht an der Vermittlung der Kinder interessiert und verdienen ihr Geld mit teuren, angeblich für den Erfolg zwingend notwendigen Fotoaufnahmen und Aufnahmegebühren. Seriöse Agenturen verzichten auf Vorabgebühren und arbeiten auf Erfolgsbasis.

Manch ein sensibles Kind übergebe sich schon auf dem Weg zu einem Casting, berichtet Carmen Kilka. "Natürlich fangen die Eltern es bei einer Absage auf - und doch steht ihnen dabei die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben", erzählt Kilka. So erhält das Kind einen frühen Einblick in eine Gesellschaft, die von Bewertung und Leistung lebt.

Kilka rät Eltern, deren Kinder vor die Kamera drängen, zu einem aufklärenden Gespräch. Sie vermittle jedem Neuling, dass man als Kind ja noch keinen Beruf habe, dass an erster Stelle immer die Schule stehen müsse. Sie empfiehlt jungen Talenten Theatergruppen in der Schule, Ferienworkshops, zum Beispiel in speziellen Kinderschauspielschulen, um herauszufinden, ob es "im Bauch eine Sehnsucht danach gibt", sagt Kilka. Wenn das der Fall ist, dann rät die routinierte Medienfrau, deren 20-jährige Tochter auch im Filmgeschäft tätig ist: "Ja, probier es aus!"

"Wo ist die Stimme?"

Vier Mädchen und zwei Jungen im Alter zwischen neun und vierzehn Jahren sind gerade dabei, ihre Lust am Schauspiel zu testen. Sie stehen im Kreis in dem kahlen Übungsraum der Task Schauspielschule in einem Hinterhof der Paul-Heyse-Straße. Die Eltern sitzen auf zwei provisorisch aufgestellten Stuhlreihen. Heute ist der letzte Tag des Kurses, deshalb dürfen sie zusehen. Schauspiellehrerin Kerstin Becke, eine zierliche, aber energische Frau, ruft in die Runde: "Wo ist die Stimme? Ihr braucht sie nachher!" Im Kreis stehen Gabor, Lisa, Maxim, Melis, Sophie und Anna. Und sie arbeiten an ihrer Stimme: "Haa!" schreien sie sich reihum mit einer wilden Karate-Kid-Geste ins Gesicht und "Pfui!", dann "Buh!" so laut sie können, dann "Juhu!" mit einem wilden Freudensprung, zuletzt ein Urschrei, den Gabor am überzeugendsten hinlegt und Melis, mit neun Jahren die Jüngste im Kreis, mit einem verschmitzten Lächeln weiterhaucht.

"Nehmt euren Körper mit!", ermahnt die ausgebildete Schauspielerin ihre Schüler. Dann die nächste Aufgabe: "Ihr habt überhaupt keinen Bock! Ihr könntet die Wand eintreten! Das ist echt zum Kotzen hier!", schreit Becke ihren Schülern entgegen. Dann: "Freeze! - Wie fühlt ihr euch?", fragt sie in die Stille hinein. Die 34-Jährige macht mit ihrem Kurs seit Februar Kameraarbeit, zeigt ihren Schützlingen auch, worauf es beim Casting ankommt. "Körperwahrnehmung ist sehr wichtig für einen Schauspieler", erklärt sie. "Werde dir deines Körpers bewusst!" lautet ihr Motto. Kerstin Becke, die selbst zwei Kinder hat, sieht in der Vermarktung die größte Gefahr für einen angehenden Schauspieler, "egal ob groß oder klein". Viele könnten zudem mit dem Druck nicht umgehen, der bei einem Casting auf jedem Bewerber lastet. "Die Angst davor, abgelehnt zu werden, ist immer groß."

Henriette Nagel, ist genau da, wohin Gabor, Lisa, Maxim, Melis, Sophie und Anna wollen. Sie spielte eine der drei Hauptrollen in dem Film "Freche Mädchen", einer Teenager-Liebeskomödie, die Mitte Juli in die Kinos kam. Und das, obwohl ihre Mutter zunächst nicht erlaubte, dass sie ihr Glück als Schauspielerin versuchte. Doch schließlich durfte Henriette doch vorsprechen - und wurde sofort von einer Agentur aufgenommen. Einmal pro Woche geht die 16-Jährige seitdem in eine Schauspielschule. Beim Casting für "Freche Mädchen" mussten die Bewerberinnen Szenen aus dem Film vortragen. Es gab drei Runden. "Ich dachte nicht, dass ich die Rolle bekomme - ich war total überrascht", erzählt Henriette.

Ambitionierte Sprösslinge

Nach so einem Casting denke man schon noch ein paar Tage darüber nach, aber nicht die ganze Zeit, verrät die Berlinerin, die im Film die naive Kati spielt. Doch ein paar Monate später rief ihre Agentin Silvana Liebich an. Im Sommer 2007 wurde der Film abgedreht. Acht Wochen Drehzeit, 26 Drehtage für Henriette: "Der schönste Sommer meines Lebens!", erzählt sie begeistert. "An meinem ersten Drehtag war ich wahnsinnig aufgeregt." So viele Leute am Set. Allein für das Licht sechs, außerdem Tonmeister, Regieassistenten, Regisseure, Best Boy, "der schaut, dass jeder seine Drehtermine einhält", erklärt sie. "Besonders schwierig ist das, wenn man eine Szene spielt, wo man im Film alleine ist, denn es sind ja immer etwa 30 bis 40 Leute dabei."

Toll findet der Jungstar "One-Taker", wenn man eine Szene aufs erste Mal im Kasten hat. "Eine intensive Zeit - ziemlich krass war das", sagt Henriette rückblickend. Gedreht wurde in Köln, die Mädchen wohnten im Marriot Hotel, "sehr luxuriös". "Zurück in Berlin wunderten wir uns, dass wir den Abwasch und unser Bett wieder selbst machen mussten", sagt sie und zwinkert mit den Augen. Die Pläne der Elftklässlerin für die Zukunft: "Das Abi, was studieren, weiter drehen." Und ihr Rat für andere Jungschauspieler: "Sich trauen, zu Castings zu gehen, natürlich sein, nicht schminken!"

Neben dem komfortablen Hotelaufenthalt hat Henriette wohl auch eine ansehnliche Gage verdient. Doch über Geld wird in dieser Branche nur ungern gesprochen. Eltern unterschreiben meist im Vertrag, über die Gagen ihrer ambitionierten Sprösslinge Stillschweigen zu bewahren. Den größten Gewinn bringen aber nicht Filme, sondern Werbespots, die für viele Kinder der Einstieg ins Geschäft sind. Das meiste Geld bringen sogenannte buy outs, Nutzungsrechte für das Internet, TV, Kino oder Printmedien. "Früher bekam ein Kind für einen Drehtag zum Beispiel ein Fahrrad", sagt Carmen Kilka, heute liege die Bezahlung im Schnitt bei zwei- bis dreihundert Euro pro Drehtag, wobei öffentlich-rechtliche Sender weniger zahlten als die privaten.

Michèle hat noch keinen Anruf von ihrer Agentin erhalten, ob sie die junge Hildegard von Bingen spielen darf. Noch ist nicht sicher, ob ihr Name einmal im Abspann auf einer Kinoleinwand aufscheinen wird. Die Kraft solch einer jungen Schauspielerin bemisst sich ebenso wie die der Kindlichen Kaiserin aus der "Unendlichen Geschichte" nach ihrem Namen. Geraten die Namen in Vergessenheit, stirbt auch ihr Traum.

© SZ vom 27.08.2008/jh - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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