Interview zu Mobbing-Attacken:"Kinder haben ein Anrecht auf Schutz"

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In einer Pasinger Grundschule hänselten und schlugen Mitschüler einen Neunjährigen über Monate hinweg. Die SZ sprach mit Mechthild Schäfer über Mobbing an Schulen.

Anja Burkel

Die Privatdozentin am Department für Psychologie an der LMU beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Thema.

SZ: Frau Schäfer, wo endet die Rauferei - und fängt Mobbing an?

Schäfer: Bei einer Rauferei kämpfen zwei gleich Starke gegeneinander. Beim Mobbing ist einer von beiden physisch und oder psychisch stärker. Der Täter oder die Täterin will an Status gewinnen, indem er einen anderen in der Klasse gezielt fertig macht und andere Mitschüler da hineinzieht. Es liegt eine Asymmetrie der Macht vor, die - je länger das Mobbing dauert - die ganze Klasse in eine Schieflage bringt. Für die anderen wird es ab einem bestimmten Punkt sogar riskant, zum Opfer zu halten.

SZ: Welche Schüler mobben?

Schäfer: Die, die erfahren haben, dass sie mit Aggression zum Ziel kommen - das wird schon in der Familie angelegt. Ein Mobbing-Täter versteht es auch ausgezeichnet, zu täuschen: Er verbirgt sich vor den Lehrern als Täter, lässt stattdessen andere blöd dastehen. Er dreht es so hin, dass der Lehrer erst hinguckt, wenn das Opfer zurück schlägt. Oder er sagt zu einem Dritten: Du bist mein bester Freund, wenn Du den haust. Dieses Verhalten verstärkt sich, wenn dieses Kind nie in seine Schranken gewiesen wurde, wenn andere für seine Taten bestraft werden, am Opfer gezweifelt wird. Und wenn ihm nie jemand unmissverständlich klar gemacht hat: Was Du hier machst, das läuft einfach nicht.

SZ: Gibt es ein typisches Opferbild?

Schäfer: Nein. Es kann jeden treffen und hängt absolut nicht - wie viele gern glauben möchten - an persönlichen Merkmalen wie "rothaarig mit Brille" oder "dick". Stattdessen liegt es wirklich an der Umgebung: Ein Kind kann in der einen Klasse glücklich sein und sich prächtig entwickeln, in einer anderen aber zum Opfer werden. Klassisch sind dagegen bestimmte Auslöser-Situationen - wie das Auseinanderbrechen einer Freundschaft. In einem Fall wurde ein Mädchen zum Opfer, das eigentlich sehr beliebt war und sogar Kandidatin für den Klassensprecherposten. Ihre ehemals beste Freundin, mit der sie sich zerstritten hatte, war schwächer und weniger beliebt - aber sie schaffte es, den anderen zu suggerieren: Ihr müsst mich beschützen! So begann die ganze Klasse, das Mädchen zu mobben. Irgendwann beteiligten sich auch die Jungs, setzten ihr eine Maus an den Platz und solche Sachen.

SZ: Wie ging die Sache aus?

Schäfer: Der Direktor merkte lange nichts - und der Lehrer reagierte völlig falsch. Anstatt daran zu arbeiten, dass die Klasse ein Problem hat, fragte er das Mädchen vor der ganzen Klasse: Nun sag mal, was dich an Deinen Mitschülern stört! Das Mädchen brach in Tränen aus - und wechselte schließlich die Schule.

SZ: Der letzte Ausweg?

Schäfer: Der letzte und ein ganz schlechter Ausweg. Denn der Eintritt in eine neue Klasse ist ja eine schwere Aufgabe für ein Kind. Dort sind die Strukturen verfestigt, alle haben schon Freunde - und das Kind hat diese Kränkung aus der alten Schule im Gepäck. Generell kann man sagen: Einer von zwei Mobbing-Fällen löst sich mit der Zeit auf. Zum Beispiel, wenn ein Lehrer die Situation erkennt, oder eine starke Klassengemeinschaft sich einig ist: Mobbing finden wir total ätzend.

SZ: Was können Eltern tun?

Schäfer: Zunächst sollten sie schon die Schule sorgfältig auswählen. Eine, an der ein gutes Miteinander herrscht, das Kollegium zusammen hält und Probleme nicht unter den Teppich gekehrt werden. Auch sollten Eltern ihr Kind beobachten, um mögliches Mobbing früh zu erkennen: Das Kind hat zerrissene Kleidung, blaue Flecke, Sachen Fehlen, es schläft schlecht, will nicht mehr in die Schule - und es gibt für all das keine einleuchtende Erklärung. Auch ein Kinderarzt kann helfen, die Gründe für psychosomatische Auffälligkeiten zu finden. Wenn klar wird, dass das Kind Opfer von Mobbing ist, sollten Eltern sich an einen Pädagogen der Schule wenden, dem sie vertrauen. Ist das nicht der Klassenlehrer, kann es der Direktor sein oder ein Beratungslehrer. Denn es ist Aufgabe der Schule, die Klassensituation zu ändern und das Kind zu schützen. Sollte sie nicht handeln, können Eltern mit Unterstützung eines Anwalts eine Dienstaufsichtsbeschwerde anstrengen. Ich finde es übrigens gar nicht schlecht, wenn sich Eltern wie beim jüngsten Fall, wenn die Schule Bescheid weiss und nichts unternimmt, an die Presse wenden. Auch das erzeugt einen gesunden Druck auf die Schule, ihrer Pflicht nachzukommen.

SZ: Haben systematische Attacken zugenommen - oder sind sie durch Begriffe wie "Mobbing" und "Bullying" nur stärker ins Bewusstsein gerückt?

Schäfer: Es gibt jedenfalls keine empirischen Belege dafür, dass Mobbing zugenommen hätte. Systematische Attacken kamen schon immer regelmäßig vor.

SZ: Sieht Mobbing unter Schülern anders aus als unter Erwachsenen?

Schäfer: Die Systematik ist ähnlich. Aber für Kinder ist das Dazugehören extrem wichtig - mehr als für Erwachsene. Denn das Kind ist mit seiner Schulpflicht ja an den Schulbesuch gebunden. Bei Mobbing ist es dort grottenallein - und das eine lange Zeit des Tages. Dabei haben Kinder ein Anrecht auf Schutz. Lehrer müssten sich da ernsthaft in der Pflicht fühlen, dem Kinder eine sichere Umgebung zum Lernen und Entwicklen zu ermöglichen.

SZ: Müssen Opfer fürchten, später automatisch wieder gemobbt zu werden?

Schäfer: Nein. Während Langzeitstudien zeigen, dass die "Täter" aus der Grundschule auch in der weiterführenden Schule oft Täter sind, gibt es eine solche "Rollenstabilität" bei den Opfern nicht. Allerdings: Wenn ein Schüler doch in der Grund- und dann in der weiterführenden Schule gemobbt wird, trübt das mit hoher Wahrscheinlichkeit später seine Beziehungsqualität. Wie bei einem Mädchen, das jahrelang an seiner Schule in einem oberbayerischen Dorf gemobbt wurde. Später erzählte sie mir, dass sie - ob im Tanzkurs oder bei ihrem Nebenjob im Supermarkt - noch immer präsent sei: Diese diffuse Angst, einfach plötzlich nicht mehr dazuzugehören.

© SZ vom 15. Dezember 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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