Hinter Oper-Kulissen:Im Herzen der Illusionsmaschine

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Auf der Bühne regiert die Kunst, abseits davon geht das wahre Leben weiter. Da sind auch "Meistersinger" nur Menschen, spielen Skat oder machen ein Nickerchen. Ein Opernabend hinter den Kulissen.

Von Rudolf Neumaier

Hinter dem Vorhang spielt sich das wahre Leben ab. Sänger sind schließlich auch nur Menschen - nicht die übernatürlichen Liebhaber, die boshaften Teufel oder die biederen Meistersinger, die sie darstellen. "Wow! Kannst Du mir die auch brennen", fragt der Tenor einen Meistersinger nach einer CD.

Vor der Aufführung kommt die Probe: "Die Meistersinger" im Nationaltheater. (Foto: Foto: ddp)

Zwei Stuhlreihen dahinter erweist sich der als Stadtstreicher verkleidete Nachtwächter, ein junger Bass, als sehr müde, lässt sich weder vom feierlichen Orchester-Vorspiel mitreißen noch von der angeregten Konversation zweier Statistinnen, er gähnt unentwegt. In den letzten Takten des Vorspiels erscheint die hübsche Sopranistin und sucht eine Möglichkeit, ihren Kaugummi loszuwerden. Sie findet einen eilfertigen Verehrer, der ihn ihr abnimmt, ehe Zubin Mehta das Vorspiel beendet hat. Dann fangen sie zu singen an.

Sobald Rupert Meyer, Inspizient am Nationaltheater, den Vorhang aufzieht, geht das wahre Leben neben der Bühne weiter. Die Bässe kommen zur Arbeit. Jan-Hendrik Rootering und Kurt Rydl. Weltbässe. Wenn sich Rootering nach einem Schluck aus seiner Anderthalb-Liter-Wasserflasche dezent räuspert, klingt es, als würde ein 30-Tonnen-Sattelschlepper seinen Motor anwerfen. "Naaa, wüü gööht's düür", begrüßt er einen Bühnenarbeiter. Der Mann, keineswegs eingeschüchtert von der Erscheinung, bleibt zum Plausch stehen. "Ja servus, passt schon." Sehen neben Rootering nicht alle Männer, selbst die muskulösesten Kulissenschieber mit ihren ärmellosen Hemden, sehr klein und kümmerlich aus? Es wirkt, als prahle er mit dem primären Geschlechtsmerkmal Stimme, wenn er neben dem Inspizientenpult tiefe Laute wie "Üüüiäaah" von sich gibt. Angeblich halten Bässe so ihren Kehlkopf auf Spannung. "Vor einem Auftritt muss das Organ gut durchblutet sein", sagt Kurt Rydl, ebenfalls Bass, den, sehr paradox, alle Kurti nennen.

Rupert Meyer beeindrucken solche Laute nicht mehr. Ihm gelingt es, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, auf die gut 160 Knöpfe in seinem Inspizienten-Cockpit und die vier Monitore. Auf Männer wie ihn kann man sich verlassen. Normalerweise machen seinen Job Tenöre, denen die Stimme versagt hat, oder erlahmte Tänzer. Doch Herr Meyer strahlt mit seinen 30 Jahren ein so hohes Maß an Sicherheit aus, dass die Staatsoper kaum umhin kam, ihn für den verantwortungsvollen Posten zu engagieren. Er ist mit einer Campingflasche voll Apfelschorle, mit gespitztem Bleistift, Radiergummi sowie einem roten und einem grünen Holzfarbstift ausgerüstet, mit denen er im Klavierauszug die Auftritte und die Umbauten markiert, die er ausruft.

Immer korrekt und zweimal hintereinander: "Die Damen und Herren des Chores bitte." Seine Anweisungen hören sich in den Lautsprechern des Hauses an wie: "Einsteigen und Türen schließen, Vorsicht bei der Abfahrt." Wobei festzuhalten ist, dass die Damen und Herren des Chores den Weg von ihren Garderoben zur Bühne, immerhin drei Stockwerke, unbedingt zu Fuß bewältigen sollten. "Stecken bleibende Aufzüge würden Auftritte verhindern", sagt Rupert Meyer. Es soll schon vorgekommen sein... Die gewaltige Prügelfuge am Ende des zweiten Aufzuges würde sich wohl ziemlich armselig ausnehmen. In der zweiten Pause gibt es jedoch nichts zu beanstanden, außer, naja, "Ritter Stolzing" Robert Dean Smith entschuldigt sich mit zahllosen "Sorrys" bei Maestro Mehta für einen musikalisch unritterlichen Fauxpas.

Die Meistersinger, erzählt Kurt Rydl, der kurzfristig als Veit Pogner eingesprungen ist, gelten unter den Künstlern als "Skat-Stück". Die langen Pausen kommen Zockern im Ensemble zupass: Unten im Mannschaftsraum der Bühnenarbeiter spielen sie Schafkopf, oben in der Solistengarderobe klopfen sie Skat. Wenn die richtigen Herren aufeinander treffen, gehen an einem Meistersinger-Abend schon mal bis zu 100 Partien über den Tisch, sagt Rydl.

Je länger die Pausen zwischen den Auftritten, desto weniger tut sich auf der Nebenbühne, weil sich die Unbeteiligten anderweitig zerstreuen. Und Herr Meyer kann sich nach Beginn des dritten Aufzuges einen kleinen Imbiss gönnen, die bezaubernde Souffleuse hat ihm Butterbrot mit Champignonaufschnitt spendiert. "Ei, Meister! 's ist heut hoch festlicher Tag", trällert David auf der Bühne, während der Inspizient ins Treppenhaus eilt, um mit wenigen Bissen sein karges Mahl zu vertilgen.

In den Aufenthaltsräumen des Chores läuft der Fernseher, aber keiner schaut wirklich hin. Und unten in der Kantine, wo neben "Ballett-Salat mit French-Dressing und gegrillten Hühnerstreifen" zu 4 Euro auch "Ungarisches Schweineschnitzel mit Zwiebel-Paprikastreifen in Sauerrahmsoße mit Spätzle und Salat" zu 5 Euro und "Fränkische Bratwurst" auf dem Speiseplan stehen, liegen die ersten Ausgaben der Zeitung des nächsten Tages. Bei den Meistersingern lassen sich die Darsteller (Wasser) am zuverlässigsten durch die Getränke von zivilen Kantinenbesuchern (Bier) unterscheiden - bei anderen Festspiel-Inszenierungen heben sie sich auch durch die Kleidung ab, bei "Xerxes" etwa oder bei "Don Carlo".

Frau Spaett, Georgine Spaett, könnte ihre üblichen Pausenspaziergänge im Kabinettsgarten neben der Allerheiligenhofkirche diesmal glatt im Kostüm absolvieren, was natürlich streng verboten wäre. Aber sie fiele nicht auf, mit dem grauen Rock und der weißen Bluse hielten sie die Leute höchstens für die Sekretärin eines emeritierten Theologieprofessors. Frau Spaett ist seit mehr als 20 Jahren Statistin. Bei den Meistersingern spielt sie Beckmessers Haushälterin, unter anderem reicht sie Eike Wilm Schulte einen Apfel. Abgesehen von den Inspizienten und den Feuerwehrmännern am Portal, die Katastrophen verhindern sollen, aber ihre Augen mitunter bedenklich lang schließen, ist sie bei dieser Aufführung mit Herrn Daneau, Paul Daneau, die einzige, die fast die komplette Oper von der Seitenbühne aus verfolgt. Aus Interesse. Die beiden Statisten haben auf der Kehrseite der Kulisse Platz genommen, inmitten von Scheinwerfern und Kabeln, Holz- und Stahlgestellen, auf die die Wände von Hans Sachsens Schusterstube gespannt sind.

Für Herrn Daneau ist es etwas Besonderes, er macht das noch nicht sehr lang. Fragen beantwortet er im Gegensatz zu all den anderen hinter der Bühne im Flüsterton - aus Ehrfurcht vor dem Ort: Die Kollegen schlügen oben in der Statisten-Garderobe die Zeit tot, einige schliefen, berichtet er. Herr Daneau aber lauscht mit Frau Spaett andächtig Hans Sachs: "Wahn, Wahn! Überall Wahn!"

Unter dem Fenster zur Schusterstube sehen sie Vitantonio Leone kauern, den Garderobier der Herren-Solisten. Gleich müsste Meister Rootering zum Umzug heraushasten: Herr Leone hat für Anzug, Schuhe und Krawatte exakt vier Minuten. Die Hose hat er so drapiert, dass der Sänger nur noch hineinsteigen muss, die Krawatte ist auf Länge gebunden. Flink wie ein Taschenspieler lüpft er dem mächtigen Rootering die Kleider vom Leib, steckt ihn in die neuen hinein und bindet ihm die Schuhe, ehe er mit dem alten Gewand durch eine Luke in der Unterbühne verschwindet. Wie ein Wiesel.

Ein paar Sekunden später steht er schon wieder in der Inspizientengasse. Das Finale naht, die Festwiese. Rupert Meyer ruft sie alle ein, die Solisten, den Chor, die Musiker, die Requisite, Herrn Leone. Tutti. Ein paar Chorherren fahren mit dem Aufzug - beim Finale sind an die 160 Leute auf der Bühne, da fiele es kaum auf, wenn der Lift stecken bliebe.

Es wird eng neben Herrn Meyers Cockpit. Und lauter. Zwei Mittvierziger analysieren den Entschluss eines gemeinsamen Bekannten, eine Frau aus Thailand zu heiraten. "Wos kost'n des?" Die Antwort geht im allgemeinen Gemurmel unter. Ausgehtipps kursieren ebenso wie Kochrezepte. Techniker schwatzen mit Solisten und Solisten mit Technikern. Das ist es, was Kurt Rydl meint, wenn er das Nationaltheater als "Wohlfühl-Haus" bezeichnet. An vielen anderen Opernhäusern sei die Atmosphäre neben der Bühne unpersönlicher. Ins Auge sticht der Eifer, mit dem geflirtet wird: Männlein bandelt mit Weiblein an, mitunter turteln Männlein und Männlein. Zielstrebig spielen und singen sie dem Feierabend entgegen.

Was am Ende bleibt, ist ein hundertfaches Bravo aus dem Zuschauerraum - und ein einziger Buh-Rufer. Die singuläre Schmähung löst hinter dem Vorhang fast so etwas wie Bestürzung aus. Zubin Mehta kann es nicht glauben, die jüngeren Sänger wirken vor ihren Solovorhängen betreten, ja verängstigt, ehe ausgelotet ist, wer diesem einen Zuschauer im Parkett missfiel - Sänger sind schließlich auch nur Menschen. Es stellt sich heraus, dass er ihren Kollegen Kurti gemeint hat, der Buh-Rufer. Kurt Rydl, den der vor der Vorstellung nervöse und nun beglückte Intendant Sir Peter Jonas umso herzlicher tätschelt, nimmt es mit großer Gelassenheit: "Aber laut war er nicht." Mit einem bombastischen "Hahahaha" verabschiedet er sich.

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