Hinter den Kulissen:Nachts, wenn die S-Bahn schläft

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In 23 Ruhezimmern, verteilt auf das gesamte Schienennetz, verbringen die MVV-Lokführer die Zeit zwischen letzter und erster Fahrt.

Von Dominik Hutter

Hinten im Abteil sitzen, mit halbleeren Biergläsern auf dem Schoß, drei Iren und lassen den Kneipenabend ausklingen. Ein letztes "Foster's" aus Australien im Neonlicht, während draußen vor den Fenstern die angestrahlten Hochhäuser an der Donnersbergerbrücke vorbeiziehen. Vorne im Führerstand, eine Glastür entfernt, steuert Helmut Ehrenthaler die S-Bahn durch die Nacht. Das Armaturenbrett schimmert grün, in einiger Entfernung sind Bahnsteige zu erkennen. München-Pasing, 0.34 Uhr, Gleis 7. Wer jetzt nicht einsteigt, muss die Nacht in der Stadt verbringen.

Eisenbahner-Hotel Geltendorf: In Zimmer 2 ist schon alles für die Nachtruhe bereit. (Foto: Foto: SZ/Hutter)

Ehrenthaler ist der letzte, der heute noch eine S-Bahn gen Geltendorf fährt. Heute der letzte und morgen der erste - so ist es in den Dienstplänen festgelegt. Ein Schicksal, das jeden Werktag 59 Lokführer teilen, die aus praktischen Gründen die kurze Nacht in eigens eingerichteten Aufenthalts- und Ruheräumen an diversen Bahnhöfen verbringen, um in der Früh gleich losstarten zu können. Ehrenthaler hat bei nächtlichen Einsätzen stets den eigenen Schlafsack dabei. Auch wenn die Pause oft nur zwei, drei Stunden ausmacht. Das komplette S-Bahn-System ruht nur noch eine gute Stunde lang - zwischen der Ankunft der letzten S 8 in Pasing um 2.02 Uhr und der Wieder-Abfahrt gen Flughafen um 3.06 Uhr.

Schwarzfahrt bei Nacht

Immerhin ist der 52-jährige Lokführer, der seit 1977 bei der Münchner S-Bahn arbeitet, nicht ganz alleine bei seiner nächtlichen Tour. Im Gang zwischen den Sitzen arbeiten sich Jörg Westenhöfer, Bernd Büscher und Christian Huber durch den Zug - die Fahrscheine kontrollierend. Vier bis fünf Schwarzfahrer erwischt es in "harmlosen" Nachtschichten wie heute, schätzt Westenhöfer. An den besten Ausgehtagen zwischen Donnerstag und Freitag können es auch mal 20 werden - oder noch mehr, wenn gerade Wiesn ist. Die meisten Schwarzfahrer ertappt Westenhöfer aber in den Spätzügen stadteinwärts. Die Zeiten, in denen das Nachtleben um ein Uhr endete, sind eben lange vorbei.

Heute hat jedoch jeder sein Ticket dabei. Ein sehr ruhiger Abend mit sehr friedlichen Fahrgästen - was auch noch andere Vorteile hat: Denn die drei Uniformierten, wegen ihrer Kopfbedeckung bahnintern als "Rotkäppchen" bezeichnet, müssten eingreifen, wenn es irgendwo Streit gibt, wenn randaliert oder auch nur geraucht wird. "Erst letzten Samstag hat ein stark Betrunkener die Fahrgäste belästigt", erzählt Westenhöfer. Wenn so jemand dann nicht aussteigen will, wird das Hausrecht durch "Hinausbegleiten" ausgeübt - wobei es durchaus mal etwas robuster zugehen kann. Die schlimmsten Linien, warum auch immer, sind übrigens S 1 und S 2.

Mehmet, der Müllmann

Fürstenfeldbruck, 0.48 Uhr. Die drei Iren mit ihren Biergläsern steigen aus, die Gastfamilie wartet. Türen zu, weiter bei Fernlicht und Tempo 110, 120 durch die Nacht. Der Zug leert sich allmählich. Als Ehrenthaler über die Weichen in die Endstation Geltendorf rumpelt, sind nahezu alle Sitze frei. Nur ein Mann wartet auf dem Bahnsteig: Mehmet Filiz mit seiner rosa Mülltüte. Schließlich sollen keine Bierflaschen zwischen den Sitzen klemmen, wenn morgen früh die Pendler kommen.

Für Ehrenthaler beginnt nun die kurze Ruhephase. Zugsysteme herunterfahren, Bremse rein, Licht aus, zusperren - und dann ab ins Bahnhofsgebäude, wo Zimmer 2 reserviert ist. Der Schlüssel für die karge Kammer hängt an einem hotelähnlichen Rezeptionsbrett. Drinnen: Bett, Tisch, Stuhl, Waschbecken sowie Leselampe. Und, gemäß Dienstvorschrift, ein Bild, das eine Dünenlandschaft vor Meeres-Hintergrund zeigt. Vor dem gekippten Fenster rauschen Güterzüge vorbei. "Das hört man nach einer Weile gar nicht mehr", sagt Ehrenthaler.

23 Ruhezimmer unterhält die Bahn im S-Bahn-Bereich, dazu diverse Aufenthaltsräume etwa im Ostbahnhof, im Werk Steinhausen oder in Pasing. Und damit auch wirklich alles klappt zum Betriebsbeginn, sind am Ostbahnhof zusätzlich zwei Bereitschafts-Lokführer stationiert. Für die ganz harten Pannen steht eine rund um die Uhr besetzte Diesel-Lok bereit, die notfalls eine liegen gebliebene S-Bahn ins Betriebswerk oder zumindest aufs nächste Abstellgleis ziehen kann. Wo das Übernachtungsprinzip - mangels Ruheraum oder auch wegen der Dienstpläne - nicht hinhaut, werden Taxis eingesetzt, um die Lokführer an ihren Arbeitsplatz zu bringen. Fährt ja schließlich noch keine S-Bahn um die Zeit . . .

Auf der Jagd nach Sprühern

Geltendorf, 1.30 Uhr: Westenhöfer, Büscher und Huber streifen über Schotter und durchs kniehohe Gras - immer an den dunklen Zügen entlang, die abseits des Bahnsteigs riesig wirken. Außer den Schritten der Wachleute ist nur das Summen der Klimaanlagen zu hören, während die Taschenlampen an den Außenwänden der Waggons entlanghuschen. "Der Zug ganz hinten am Waldrand ist besonders gefährdet", weiß Huber. Graffiti. Sollten plötzlich drei Sprüh-Profis aus dem Dunkel des Waldes springen, kann es sein, dass der Zug nach nur sechs Minuten auf kompletter Länge nicht mehr wiederzuerkennen ist. Das wollen die Sicherheitsmänner unbedingt verhindern. "Einen gewissen Ehrgeiz entwickelt man schon", meint Büscher. Etwa alle sechs bis acht Wochen, schätzt er, erwischt der Trupp einen der Sprayer, die ständig raffinierter werden - etwa per Magnet verhindern, dass die kleine Kugel in der Spraydose hörbar herumhüpft.

Vandalismus, und dazu zählt bei der Bahn auch das Sprühen von Graffiti oder Tags, kostet das Verkehrsunternehmen jedes Jahr Millionen. Während andere Städte die Schlacht längst aufgegeben haben, setzt man in München weiter aufs strikte Prinzip "sofort entfernen, bevor es jemand sieht." Das frustriert den Sprayer, verursacht aber auch immensen Aufwand - so dass es sich lohnt, die 21 übers gesamte S-Bahn-Netz verteilten Zug-Depots zu bewachen. 152 von 238 S-Bahnen müssen die Nacht auf diversen Abstellgleisen irgendwo auf der Strecke verbringen. Für den Rest gibt es Plätze im (ebenfalls bewachten) Werk Steinhausen. Das Katz-und-Maus-Spiel mit den Sprühern nehmen 62 Streifen im Schichtbetrieb auf.

Tägliche Bremsprobe

Gegen 3.45 Uhr ist auch Helmut Ehrenthaler wieder unterwegs. Per Taschenlampe werden die Fahrgestelle des Zuges überprüft, es erfolgt eine routinemäßige Bremsprobe. Am Bahnsteig warten bereits die ersten Fahrgäste vor den noch geschlossenen Türen: die Landsberger Dominikanerschwestern Michaela, Reena, Jane, Ancy und Antonia - umgeben von einem großen Kofferberg. Um 2.30 Uhr sind sie aufgestanden, weil drei der Nonnen gen Indien, in die Heimat, reisen. Ehrenthaler schaltet die Innenbeleuchtung an - Türen auf, das Indien-Gepäck wird eingeladen.

Um 4.16 Uhr, zwei Minuten später als geplant, legt Ehrenthaler den Fahrhebel nach vorn , es geht zurück Richtung München. Spätestens ab Buchenau ist der Zug gut gefüllt mit sehr müden und sehr schweigsamen Menschen: allesamt Pendler, auch ein paar Lokführer sind dabei. Am Horizont ist der Lichtdom über der Stadt zu sehen, und bald rollt der Zug in Pasing ein. Ehrenthaler denkt nun allmählich an den Feierabend und an den warmen Leberkäs beim Stamm-Metzger in Erding. In Kürze, endlich, wird er am Tisch bei seiner Frau sitzen. Sie wird frühstücken - und er zu Abend essen.

© SZ vom 10.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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