Fünf Beispiele für Hartz IV:"Ich kann nur auf ein Wunder hoffen"

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Von zerplatzten Träumen, Existenzängsten und Fallmanagern, die keine Fälle managen.

Von Doris Näger

Vielleicht ist Renate Reinisch seine Vorzeige-Frau. Vielleicht ist sie diejenige, die Wolfgang Clement am besten gefällt. Und diejenige, die so manchen Hartz IV-Kritiker bändigt.

Schlange stehen vor der Agentur für Arbeit. (Foto: Foto: dpa)

Renate Reinisch ist 47 Jahre alt und Finanzberaterin, sie war fast zwei Jahre arbeitslos, nachdem eine große deutsche Bank sie auf die Straße gesetzt hatte. Und nun, kurz nach dem Start von Hartz IV, hat sie wieder einen Job. Und sie sagt: "Vor drei, vier Jahren hätte ich so einen Vertrag nie im Leben unterschrieben."

Arbeitsplätze schafft das neue Gesetz nicht

In all den Monaten, seit die Öffentlichkeit über Hartz IV diskutiert, galt es immer als Vorteil des Gesetzes, dass sich dadurch vielleicht so mancher animieren lässt, eine Arbeit anzunehmen, die er zuvor abgelehnt hätte. Wie viele das sind, sagt keine Statistik.

Für die große Mehrzahl der Hartz IV-Betroffenen hat sich jedoch in den ersten drei Monaten nichts zum Besseren gewendet. Arbeitsplätze schafft das neue Gesetz nicht. Und die Betreuung hat sich auch noch nicht verbessert.

Für jeden Menschen eine individuelle Lösung zu finden, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und einer breiten Masse Arbeit zu vermitteln - dazu braucht die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München (Arge), die die Paragrafen umsetzen soll, noch jede Menge Zeit. Die neuen Fallmanager ringen drei Monate nach dem Start mit der Auszahlung der Leistungen, mit der Umstrukturierung und vor allem mit der Software.

Auf einmal war alles vorbei

Renate Reinisch hat es sich zum Gespräch auf einem roten Ledersofa bequem gemacht. Über ihr hängen Gemälde in goldenen Rahmen. Auf dem Couch-Tisch stehen Liköre in Karaffen. Dass sie einmal bestens verdient hat, davon zeugen noch immer die edlen Möbel im Wohnzimmer. Sie war es gewohnt, Geld zu haben und Headhunter-Anrufe zu bekommen. "Auf einmal war alles vorbei."

Management-Fortbildung, unbezahltes Praktikum in einem großen Unternehmen - alles nützte nichts. Einen Job ihrer Liga fand sie nicht. Als Hartz IV kam, beschloss sie, dass sich etwas ändern muss. Beim nächsten Angebot schlug sie zu. Jetzt baut sie für eine Vermögensverwaltung die Münchner Dependance auf - für weniger Geld als sie gewohnt war.

Renate Reinisch also ließ sich von Hartz IV anspornen, ihre Ansprüche herunter zu schrauben. Das ist ein Verdienst des Gesetzes, aber nicht der Arbeitsgemeinschaft. Mit ihr machte Renate Reinisch eher schlechte Erfahrungen: Schon im Herbst 2004 beantragt sie das Arbeitslosengeld II. Sie weiß, dass sie damit zumindest einen Monat überbrücken muss, bevor ihr neuer Job beginnt: "Das Ersparte ist nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit aufgebraucht."

Aussitzen, solange es geht

Sie schickt ihren Antrag ins Amt, bekommt bis Dezember aber weder Rückmeldung noch Bescheid. Im Dezember geht sie persönlich zur Außenstelle Thalkirchnerstraße. Es heißt, ihr Antrag sei verloren gegangen. Sie sammelt alle Unterlagen noch einmal zusammen.

Neue Vorsprache am 30. Dezember: Der Berater will den aktuellen Rückkaufswert einer Lebensversicherung wissen. Er drückt ihr alles in die Hand und bestellt sie erneut für die darauf folgende Woche.

Vorsprache Anfang Januar: Den Ansprechpartner gibt es nicht mehr. Reinisch platzt der Kragen: "Es kann mir niemand erzählen, dass der das nicht schon am 30. Dezember wusste."

Nicht krankenversichert, Telefon abgestellt

Reinisch fährt ins Sozialbürgerhaus. Sie hört, dass man dort nur mit Termin vorsprechen darf. Von zuhause ruft sie an. Der Anrufbeantworter sagt: Die Ansprechpartnerin sei erst Ende des Monats wieder erreichbar. Reinisch ruft Ende des Monats an. Die Fallmanagerin sagt, es sei ein Riesenfehler passiert; es sei doch noch die Thalkirchnerstraße zuständig.

Wegen dieses Tohuwabohus ist Renate Reinisch den ganzen Januar nicht krankenversichert. Zum Glück bekommt sie nur die Grippe. Sie borgt sich von Freunden Geld für Medikamente. Ihre Rechnungen kann sie nicht mehr bezahlen. Zwei Mal wird ihr das Telefon abgestellt.

"Ich hätte nie gedacht, dass das einen selber trifft, aber irgendwann geht das ganz schnell." Anfang März bekommt Reinisch einen Brief: Sie möge doch alle Unterlagen erneut liefern. Einen Bescheid vermisst sie bis heute.

Rolf R. hat wenigstens in Sachen Geld Klarheit. Er bekommt zehn Euro mehr als vorher. Aber von seinem Fallmanager hat der 54 Jahre alte Mediengestalter noch nichts gehört.

Wie ein Pappkamerad fühlt sich so mancher Arbeitsloser, der in die Mühlen der Behörden gerät. (Foto: Foto: dpa)

Drei Tage lang versuchte er erfolglos, telefonisch einen Termin mit ihm zu vereinbaren. Aber er erhofft sich ohnehin wenig von ihm. In seinen vier Jahren Arbeitslosigkeit hat sich Rolf R. häufig genug erfolglos beworben.

Und obwohl hoch motiviert und engagiert, macht ihm sein Alter immer wieder einen Strich durch die Rechnung. "Die Einstellung, dass ich dringend einen Job brauche, die hatte ich schon vor Hartz IV. Dafür brauche ich dieses Gesetz nicht. Was sollen die Leute von der Arge mir schon erzählen? Dass es schwierig ist, jemanden über 50 zu vermitteln? Das weiß ich auch ohne die."

Anfangs, im Januar, hoffte er auf einen Ein-Euro-Job. Ein bestimmter Träger wollte ihn in die Organisation einbinden. Mittlerweile hat er für sich beschlossen: "Das mache ich nicht mit." Seine Begründung: "Damit werden nur Arbeitsplätze zerstört."

So sucht Rolf R. weiter. Gerade hofft er auf einen Vertriebsauftrag für zwei Graphiker auf Provisionsbasis. "Statt auf Hilfe von der Arbeitsagentur zu warten, beschäftige ich mich lieber mit den Perspektiven, die sich immer mal wieder ergeben. Alles andere frustriert mich nur."

250 Euro weniger für Essen, Waschmittel, Kleider. Sonja B. ist ratlos: "Wir wissen nicht, wie"s weitergeht." Sonja B.s vierköpfige Familie bekommt schon seit Anfang der neunziger Jahre Sozialhilfe.

Die heute 41 Jahre alte Architektin gab damals zunächst wegen der Kinder und dann wegen einer chronischen Krankheit ihren Beruf auf. Ihr Mann ist Fahrradkurier - seine Einnahmen schwanken erheblich, je nach Jahreszeit.

Mittlerweile haben Sonja B. und ihr zwölfjähriger Sohn auch Neurodermitis. Das Sozialamt bewilligte immer zusätzliches Geld, damit sich die beiden Kranken neutrales Waschmittel, Wäsche aus unbehandelter Baumwolle und Sojamilch leisten können.

Doch das ist vorbei. "Mein Sohn hat einen akuten Schub, und bei mir fängt es gerade an", sagt B.; früher habe das Geld gerade gereicht, "aber jetzt können wir den Standard nicht mehr halten".

Sonja B. ist laut ihrer Ärztin nicht als arbeitsfähig einzustufen. Einem Attest zufolge kann sie maximal zwei Mal drei Stunden pro Woche arbeiten. Wer Arbeitslosengeld II bekommt, muss laut Gesetz mindestens täglich drei Stunden verfügbar sein.

Gegen ihren Bescheid hat Sonja B. Widerspruch eingelegt - in der Hoffnung, in die Sozialhilfe zurück zu dürfen. Die Arge lehnte ihn ab. Jetzt will Sonja B. vor dem Sozialgericht klagen.

Adrian H., 24, hat im Büro seines Betreuers gerade eine Bewerbungsmappe in einen Umschlag gesteckt und beschriftet. Er tritt wieder hinaus auf den Flur und mischt sich unter die vielen Jugendlichen, die aus den Unterrichtsräumen strömen.

H. geht hier, im Gebäude der Beruflichen Fortbildungszentren, zwei Mal die Woche zum Coaching - finanziert von der Arge. Angesichts der hohen Zahl an Langzeitarbeitslosen konzentriert sich die Arge zur Zeit auf Jugendliche unter 25 Jahren und Alleinerziehende.

H. wirkt recht erwachsen. Trotzdem ist er einer dieser Jugendlichen, die nicht genau wissen, was sie wollen, die vieles anfangen und sich beruflich wenig zutrauen.

Die Party ist vorbei

"Ich hatte keinen Bock auf Schule, wollte immer nur Party." Doch irgendwann war diese Phase vorbei. Und gerade da lehnte ihn eine Montagefirma, bei der er eine Ausbildung beginnen wollte, aus wirtschaftlichen Gründen ab.

Im August vergangenen Jahres meldete er sich arbeitslos. Im Herbst bewarb er sich für verschiedene Jobs, unter anderem als Discjockey, als Gärtnereigehilfe, er arbeitete kurze Zeit bei einer Zeitarbeitsfirma. Er musste schließlich Eigenbemühungen nachweisen. "Aber interessiert hat das den Sachbearbeiter nicht wirklich", sagt Adrian H.

Erst jetzt im Februar rief ihn eine neue Sachbearbeiterin an. "Sie wollte ein Gespräch mit mir", sagt H. Mit ihr besprach er, dass er eigentlich gerne eine Kochlehre machen würde. "Auf einmal kümmert sich jemand um mich", freut sich H.

Seine Selbstzweifel half sie ihm zu zerstreuen. "Sie hat mir gut zugeredet." Sie bot ihm auch das Coaching mit Bewerbungstraining an. Adrian H. freut sich: "Hier bekomme ich einen guten Einblick, wie man eine Bewerbung richtig aufsetzt und auf was man beim Vorstellungsgespräch achten muss."

Margret Scherer gehört offiziell auch zu der bevorzugten Gruppe. Aber die Alleinerziehende hat keine Hilfe von ihrer Fallmanagerin erhalten. Dabei liegt ihr Fall ziemlich einfach: Die 37 Jahre alte Übersetzerin muss im Juni nach der Elternzeit ihre Stelle wieder antreten, um sie zu behalten.

Doch für ihre dann dreijährige Tochter Marlene hat die Arbeitslosengeld II-Empfängerin weder Kindergartenplatz noch Tagesmutter gefunden. Von städtischen Einrichtungen bekam sie nur Absagen. "Ich habe alles getan, was ich konnte", sagt Scherer.

Ihre Fallmanagerin zeigte sich hilflos: "Sie sagte, sie könne nichts für mich tun und verwies mich an den Allgemeinen Sozialdienst. Dort habe ich aber noch niemanden erreicht." Scherer ist verzweifelt. "Ich kann nur auf ein Wunder hoffen."

Es kann nur besser werden

Die frühere Bankangestellte Renate Reinisch hat einen neuen Job, aber die Sorgen sind geblieben. Von 3000 Euro brutto muss sie Fahrtkosten, Hotel und Telefon bezahlen. Ihr neuer Arbeitgeber hat noch kein Gehalt überwiesen.

"Ich bin mit Miete und Krankenversicherung im Rückstand, habe tausende Euro Schulden." Durch Hartz IV und den neuen Job ist ihr Leben noch lange nicht in Ordnung: "Es kann nur besser werden."

(SZ vom 31.03.2005)

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