Filmfest:Dem Leben hinterher

Lesezeit: 2 min

Französisches Kino in den Wechseljahren — in seiner Trilogie zeigt Lucas Belvaux ein paar erstaunliche filmische Experimente. Dabei ist das Sichtbare nur selten die Wahrheit.

H.G. Pflaum

(SZ vom 30.6.2003) — Auf den Zusammenhang kommt es an. Das hat schon der Filmpionier Lew Kuleschow nachgewiesen, als er die gleiche Nahaufnahme des russischen Stars Mosjukin mit drei anderen Bildern kombinierte - so dass die Zuschauer glaubten, im Gesicht des Schauspielers eine jeweils andere Emotion zu sehen.

Genau das ist nun der Ausgangspunkt der Trilogie des 1961 im belgischen Namur geborenen Schauspielers, Autors und Regisseurs Lucas Belvaux. Die Motive, Personen und Geschichten der Filme "Un couple épatant", "Cavale" und "Après la vie" überschneiden sich, spielen alle zur gleichen Zeit in Grenoble und wurden gleichzeitig gedreht.

Bizarre Perspektivenwechsel

Nur die Perspektiven und Schwerpunkte ändern sich von Film zu Film; jeder neue Blickwinkel und jeder veränderte Kontext zwingen den Zuschauer, die Interpretation des bisher Gesehenen zu revidieren.

"Un couple épatant" (Montag 22 Uhr, Münchner Freiheit) ist fast noch eine Komödie der Irrtümer: Die Aussicht auf eine harmlose Operation versetzt den erfolgreichen Unternehmer Alain in Panik. Seine Frau Cécile hat keine Ahnung von den Nöten ihres Mannes, sondern vermutet eine Affäre und setzt den Polizisten Pascal auf ihn an.

Der Überwacher, irritierend übermotiviert, kann auf der Suche nach dem Bösen die harmlose Wahrheit nicht sehen. Alain entdeckt die Überwachung und erliegt ebenfalls seinen falschen Vermutungen. Weil das Sichtbare nur selten die Wahrheit ist, häufen sich Missverständnisse, bis Alain am Ende seiner Sackgasse — mit Zwangsjacke! — ankommt und umkehren muss.

In "Cavale" (Münchner Freiheit, Montag 19.30, Dienstag 17, Mittwoch 22 Uhr) setzt sich das Spiel der Täuschungen fort mit Perücken und falschen Bärten. Le Roux, im "Couple" eine Randfigur, hetzt in Grenoble herum, übt Terror aus und taucht wieder ab. Es geht um Brandstiftung und Mord, Sprengstoff und Drogen.

Auch er erliegt einem, diesmal folgenschweren Irrtum: Trotz seiner kriminellen Energie ist Le Roux ein Idealist, der für eine längst nicht mehr existente "Revolutionäre Volksarmee" agiert, sich aber auch im Krieg mit Dealern und Drogenbossen befindet, für eine von Morphium abhängige Frau in Gefahr sein eigenes Leben riskiert ... Jetzt ahnen wir, weshalb der Polizist Pascal so übereifrig agiert. Am Ende wird Le Roux in den Bergen verschwinden.

Zu Beginn von "Après la vie" (Münchner Freiheit, Mittwoch 19.30, Donnerstag 17, Freitag 22 Uhr) kehrt Pascal per Seilbahn aus den Bergen zurück, als hätte er da oben nach Le Roux gesucht. Schon wieder muss der Zuschauer die Erfahrung machen, dass er allzu bereitwillig von einem vorausgegangenen Bild auf das neue schließt, Kombinationen korrigieren muss: Zeitlich stimmt die Sequenz des Polizisten in der Seilbahn nicht mit dem Ende, sondern mit dem Anfang von "Cavale" überein. Wenig später zerschneidet Pascal ein Foto von Alain und seiner Frau. Er trennt das Paar, blickt auf das Bild von Cécile, das nun eine andere Wertigkeit zu haben scheint.

Trilogie des regelmäßigen Umdenkens

Es geht in dieser Trilogie um das regelmäßige Umdenken, um die permanente Neubewertung von Ereignissen und Personen. Eine Parodie dieses Prozesses liefert Alain in "Un couple épatant"; ins Diktaphon formuliert er sein Testament, dem er bald selbst nicht mehr zustimmen mag; bis ans Ende des Films kommt er kaum noch hinterher, seinen letzten Willen den aktuellen Deutungen der Ereignisse anzupassen.

Die Unsicherheiten, das Gesehene richtig einzuschätzen, setzen sich in der moralischen Beurteilung der Figuren fort. Am spannendsten ist das, wenn es um Pascal geht, den Polizisten, der viele Kompromisse eingeht und dennoch versucht, seine ethischen Grundsätze nicht zu verlieren.

Dass er seine Frau mit Morphium versorgt, bringt ihn in die Abhängigkeit von Kriminellen. Dennoch weigert er sich, den Terroristen Le Roux dem Drogenboss ans Messer zu liefern. Lucas Belvaux' Trilogie macht klar: was man im Kino sieht, ist immer nur ein kleines arrangiertes Segment, und jedes andere Segment könnte die Einschätzung des Gesehenen gründlich verändern. Die Wirklichkeit jenseits des Bildausschnitts wird immer umfassender sein als ihr größtes Abbild.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: